: „Der Gott namens Fortschritt ist tot“
Was man sieht, ist nie genug: Dem französischen Regisseur Nicolas Rey ist mit „Schuss!“ (Forum) ein starker Bildessay über Industrialisierung und Freizeit, Arbeit und Luxus, Schmutz und Reinheit gelungen
INTERVIEW HARALD FRICKE
taz: Herr Rey, Sie haben 2002 im Forum „Les Soviets plus l’électricité“ gezeigt, eine ziemlich radikale und leidenschaftliche Reise ins Dunkel der gescheiterten Sowjetunion. Für „Schuss!“ waren Sie auf den Skipisten der französischen Alpen unterwegs. Sind Sie ein begeisterter Wintersportler?
Nicolas Rey: Ich war in meiner Jugend oft Skifahren, ich fühle mich in den Bergen wohl, und ich mag die Leute, die dort leben. Gleichzeitig finde ich die Städte erstaunlich, die in den Skigebieten entstanden sind. Als reine Freizeitstätten wurden sie ganz auf den Winterurlaub ausgerichtet, im Sommer wirken sie fremd und verlassen. Dann hat es mich auch interessiert, wie sich in den Tälern Anfang des letzten Jahrhunderts eine Metall verarbeitende Industrie speziell für Aluminium entwickelt hat, die einerseits von den reichen Bodenschätzen profitierte und andererseits von den Kraftwerken entlang den Stauseen. Denn der Tourismus hat sich in diesen Gebieten erst später durchgesetzt.
Der Film sucht nach historischen Überschneidungen?
Ja, zumal Aluminium auch für die Herstellung von Wintersportartikeln benutzt wird. Ähnliche Verschränkungen finden sich in Kanada oder Schweden. Aber eigentlich geht es mir darum, dass im 20. Jahrhundert der Gott namens Fortschritt gestorben ist, und ich wollte zeigen, was das für Folgen hatte.
In „Schuss!“ konkurrieren Bilder des Sports mit denen der Industrie ständig um Aufmerksamkeit – als Kampf zwischen Arbeit und Vergnügen?
Heute wird Freizeit als ein positiver Wert verstanden, gleichzeitig herrscht überall Angst vor Arbeitslosigkeit. Umgekehrt denken die meisten Menschen bei Industrie an Schmutz, was wiederum nicht zu den weißen Schneelandschaften zu passen scheint. Alles zusammen ergibt ein ökonomisches System, das viele Gestalten hat.
Aber eine fehlt. Warum sieht man nie die prächtigen Alpenhotels?
Natürlich ist das Absicht. Ich wollte so weit wie möglich weg von den typisch idyllischen Wintersportbildern, genau wie bei den Images von meiner Reise durch die Sowjetunion. Was man dagegen sieht, sind Menschen, die Urlaub machen. Da existiert schon ein gewisser Luxus, etwa bei dem verwendeten Found Footage aus den 20er-Jahren, als Wintersport noch den Reichen vorbehalten war, auch das Filmen selbst war damals ja ein ziemlich teures Hobby. Übrigens existieren gar nicht so viele Filme über Wintersport.
Vielleicht weil sich Schnee schlecht filmen lässt?
Mag sein, an Dokumentarfilmen fällt mir zumindest nur die berühmte Arbeit von Robert Wiseman ein. Ach, und natürlich gibt es noch die Alpenfilme aus den 30er-Jahren, das waren auch einige der Vorbilder, an denen ich mit meinem Film Archäologie betrieben habe.
„Schuss!“ greift häufig auf Dokumente aus Archiven zurück, in langen Sequenzen kann man faksimilierte Briefe und Akten auf der Leinwand lesen.
Es geht mir um die Widersprüche innerhalb der Welt, in der wir leben. Das Publikum soll sich selbst ein Bild aus dem Material machen, das ich verwende. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, unregelmäßig und immer wieder einige wenige Images auftauchen zu lassen. Mal sind es Porträts von Skifahrern bei ihrer Abfahrt am Hang, die auf der Tonspur mit Gesprächen von Skilehrern oder Snowboardfans begleitet werden; mal sieht man Aufnahmen, die ich von den Kraftwerken und oben an der Seilbahn gemacht habe. Ich wollte, dass verschiedene Gesichtspunkte dieser ansonsten sehr geschlossenen Welt des Wintersports möglichst roh und ungefiltert zusammenkommen. Immerhin dauern die Passagen, wo nur Text erscheint, gut zwanzig Minuten.
Warum haben Sie die Briefe nicht vorgelesen?
Ich habe es versucht, es hat nicht funktioniert. Denn der Zuschauer soll auch die unterschiedliche visuelle Qualität erkennen, ob ein Brief mit der Hand oder an der Schreibmaschine geschrieben wurde. Solche Formen bestimmen, wie wir ihren Inhalt wahrnehmen. Mir hat dieser Zugang jedenfalls Spaß gemacht, ich hoffe, dem Zuschauer geht es ähnlich.
Ist das noch Dokumentarfilm oder nicht doch eher experimentelles Kino?
Zunächst einmal ist „Schuss!“ für mich kein Dokumentarfilm, sondern eine Verbindung aus Essay, Fotografie, Dokument, überhaupt eine Erweiterung von Wirklichkeit. Das gilt neben den Bildern auch generell für die Zeit, die in diesen Bildern gespeichert ist und die für den Betrachter wieder sichtbar werden soll.
So wie sich die Geschichte von Wintersport und Metallindustrie allmählich, Schicht für Schicht, entfaltet und manchmal eben Umwege nimmt?
Der Film versucht, offen zu sein für Möglichkeiten, die sich erst in der Montage abzeichnen. Für mich heißt Filme machen vor allen Dingen, im Studio mit Schnitt und Sound zu arbeiten. Aus dieser Verbindung von Bild und Ton resultiert filmischer Raum, oder, wie ich es nenne, das Volumen des Films.
Dabei bekommt man das eigentliche Objekt der Begierde nie zu sehen. Gehört es auch zum Konzept, dass Sie den Mont Blanc nicht zeigen?
Natürlich will jeder den Mont Blanc sehen: der höchste Berg in Europa, unser Aushängeschild. Ich bin gespannt, was passiert, wenn die Türkei vielleicht doch irgendwann in die EU aufgenommen wird – ob dann der Ararat an seine Stelle tritt? Was du siehst, ist niemals genug, das gilt in gewisser Weise auch für meinen Film. Insofern ist der unsichtbare Mont Blanc ein Witz, der in „Schuss!“ immer wiederkehrt. Es ist ja ein sehr amerikanischer Reflex, nach dem höchsten Berg oder den Besten der Welt zu suchen, dieser Wunsch nach Superlativen. Tatsächlich sieht man den Mont Blanc einmal ganz kurz in dem alten Filmmaterial aus den 20er-Jahren. Aber der Moment ist auch schnell wieder vorbei.
„Schuss!“. Regie: Nicolas Rey. Frankreich, 123 Min.