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Archiv-Artikel

„Wir sollten was Anständiges lernen“

MUSIK Sie haben die Schule abgebrochen, reisen durchs Land und leben von Straßenmusik: Elias Gottstein und Carl Luis Zielke sind „Guaia Guaia“. Ein Gespräch über Freiheit, Glaubwürdigkeit und Robin Hood

Guaia Guaia

■ Die Musiker: Elias Gottstein und Carl Luis Zielke stammen aus Neubrandenburg und machen als Guaia Guaia Straßenmusik. So wollen sie ein möglichst einfaches Leben finanzieren. Im Sommer sind sie mit Gitarre, Trompete und Keyboards unterwegs, im Herbst suchen sie sich leerstehende Häuser, um den Winter zu überstehen.

■ Die Musik: In ihren Songs verarbeiten Guaia Guaia das Unterwegssein, die selbstgewählte Obdachlosigkeit und den Versuch, möglichst selbstbestimmt zu leben. Nach drei CDs im Eigenverlag erscheint jetzt ihr erstes Album bei einem großen Label: „Eine Revolution ist viel zu wenig“ (Vertigo/ Universal). Ein Mix aus HipHop, Folk und elektronischen Beats.

■ Der Film: Zwei Jahre lang begleitete Sobo Swobodnik die beiden Musiker. Der Film „Unplugged: Leben – Guaia Guaia“, der beim Filmfest München 2012 den Publikumspreis gewann, kommt am 11. Juli in die Kinos.

VON THOMAS WINKLER (TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

sonntaz: Mal angenommen, ich nehme mir an euch ein Beispiel, kündige meine Wohnung und will diesen Sommer auf der Straße verbringen: Welche Stadt könnt ihr mir empfehlen?

Elias Gottstein: München wäre ein guter Einstieg.

Ausgerechnet München?

Gottstein: Ja, da kann man extrem einfach auf der Straße leben. Übernachten kann man entspannt unter einer Brücke an der Isar.

Carl Luis Zielke: Dann fängt der Tag mit einem Bad im Eisbach an und geht weiter mit einem gemütlichen Frühstück im Englischen Garten.

Wo kommt das Geld für das Frühstück her?

Zielke: Wir suchen uns einen Platz, wo wir spielen können, und verkaufen CDs an die Leute, die stehen geblieben sind.

Und dann wieder unter die Brücke?

Gottstein: Jetzt, wo wir mit den Fahrrädern unterwegs sind, fahren wir meist aus den Städten raus und suchen uns ein Plätzchen auf dem Feld oder am Waldrand, wir machen ein Feuer und kochen uns was.

Klingt idyllisch.

Gottstein: Ist es auch. Man hat zwar kein gemütliches Bett, aber das, was wir machen, ist viel entspannter als die Tourneen anderer Bands. Wir sind total frei in unseren Entscheidungen, haben keine Verpflichtungen, heute hier zu spielen oder morgen pünktlich dort zu sein.

In eurem Song „Absolute Gewinner“ beschreibt ihr dieses Leben so: „Ich reise um die Welt, besuch das Paradies.“ Die Obdachlosigkeit ist für euch „Straßenromantik, die Insel im Gepäck“. Ist das nicht naiv?

Gottstein: Vielleicht. Früher haben wir nach Orten gesucht, an denen wir spielen können, nach Möglichkeiten, Gehör zu finden. Diese Frage hat sich irgendwann ausgeweitet darauf, wie wir leben wollen. Heute zahlen wir keine Miete, wir haben keine Wohnung, aus der wir fliegen könnten. Das macht frei. In dem Song heißt es ja auch: „Ich häng mit meinen Jungs, du hängst am Besitz.“

Armut ist also nur eine anderes Wort für Freiheit?

Zielke: Kommt auf die Art der Armut an. Ich würde das, was wir anstreben, nicht Armut nennen, sondern Reduktion. Wir besitzen sehr wenig, das passt alles notfalls in die beiden Kisten auf unseren Fahrrädern. Dieses Leben ist vor allem aus dem Wunsch entstanden, unabhängig zu sein.

War das bislang erfolgreich?

Gottstein: So ein Ausbruchsversuch kann natürlich nicht hundertprozentig klappen. Aber eine gewisse Autarkie haben wir uns erarbeitet.

Ist so ein Leben auf der Straße nicht wahnsinnig aufreibend?

Gottstein: Wir fahren ja nicht die ganze Zeit umher, wir waren niemals länger als ein paar Monate unterwegs. Auch wir brauchen mal eine Phase, in der wir zur Ruhe kommen können. Diese Pausen haben wir uns in jedem Winter genommen.

Wo wohnt ihr im Winter?

Gottstein: In den letzten drei Jahren haben wir uns in Berlin auf die Suche nach leerstehenden Häusern gemacht. Den ersten Winter in Berlin waren wir in einem Bahnwärterhäuschen am Ostkreuz, den zweiten in einer Villa in Potsdam. Die hatte uns ein Multimillionär überlassen, den wir kennengelernt hatten. Als die renoviert wurde, hat er uns seine leerstehende Fabrik in Oranienburg zur Verfügung gestellt. Im letzten Winter haben wir sieben Monate in einem alten Vereinsheim gewohnt, dort sind wir vor einem Monat rausgeflogen.

Im Winter werdet ihr also zu klassischen Hausbesetzern?

Gottstein: Wir fühlen uns nicht als Hausbesetzer, wir wollen dort ja nicht auf Dauer bleiben. Wir nutzen nur, was gerade nicht gebraucht wird. Wir sind, wenn überhaupt, sehr leise Hausbesetzer.

Wo wohnt ihr jetzt?

Zielke: Mal hier, mal dort.

Gottstein: Eine Zeit lang in einem richtigen besetzten Haus. Und die letzten beiden Wochen war ich mit meiner Freundin in einer Villa am Wannsee, aber da braucht man so lange in die Stadt rein. Gestern habe ich die Matratze da abgeholt, weil jetzt auch Arbeiter aufgetaucht sind, um zu renovieren. Aber jetzt geht ja eh die Tour los.

Eine ganz simple Frage: Warum macht ihr das?

Gottstein: Gute Frage. Denn auch wenn es so aussieht wie ein Plan, hat es erst einmal keinen gegeben. Das hat sich so entwickelt seit unserer Schulzeit. Wir haben Musik gemacht, um unsere Erfahrungen zu verarbeiten und Minderwertigkeitskomplexe abzubauen. Das war, ganz naiv, ein Wunsch nach Anerkennung und auch ein wenig Größenwahn. Als es in der Schule mal darum ging, was wir werden wollen, hat Luis gerufen: Ich will Rap-Star werden.

Zielke: Musik war nur eine Methode, die Langeweile in der Schule zu kompensieren. Andere Methoden waren Zeichnen oder Graffiti. Irgendwann haben wir es nicht mehr ausgehalten, nicht unser eigenes Ding machen zu können.

Gottstein: Wir sind in der Schule immer schwerer zurechtgekommen. Nicht mit dem Stoff, aber damit, uns einzufügen.

Deshalb habt ihr nach eurem 18. Geburtstag die Schule abgebrochen. Eure Eltern waren sicher begeistert?

Gottstein: Tatsächlich. Meine waren froh, dass ich es überhaupt noch so lange ausgehalten habe, bis ich die Mittlere Reife hatte. Ich wollte eigentlich schon in der 6. Klasse abgehen.

Zielke: Ich habe nur einen Hauptschulabschluss. Meine Familie hat noch versucht, mich zu einem Schauspielstudium zu überreden. Aber ich bin bei der Aufnahmeprüfung an der Ernst-Busch-Schule in Berlin durchgefallen – zum Glück.

Dann seid ihr abgehauen aus Neubrandenburg, wo ihr aufgewachsen seid?

Gottstein: Ich würde das nicht abhauen nennen. Wir sind geflüchtet nach Frankfurt am Main, hatten dort eine Wohnung und haben unseren Zivildienst gemacht. Dann haben wir mit der Straßenmusik angefangen und nach der ersten Sommertour beschlossen, die Wohnung zu kündigen. Warum sollten wir Miete zahlen, wenn wir eh nicht da sind?

War diese Entscheidung für die Obdachlosigkeit schon eine politische?

Zielke: Wir hatten damals ein paar allgemein-pazifistische Ansätze, aber keine politische Absicht. Die Absicht war ganz einfach, unser Leben zu entfalten und dabei möglichst unabhängig zu bleiben von Konzertveranstaltern, Management oder Plattenfirmen. Politischer wurden wir erst, als wir auf Schwierigkeiten stießen bei dem Versuch, unsere Vorstellungen von Freiheit auch auszuleben. Das Ordnungsamt kann jederzeit in unsere Wohnung kommen und uns rauswerfen…

aus einer Wohnung, die nicht euer Eigentum ist.

Gottstein: Aber wir tun ja nichts Schlechtes, wir wohnen nur in verlassenen Wohnungen.

Zielke: Oder die Polizei kommt und bricht unsere Auftritte ab.

Wie oft kommt das vor?

Zielke: Sehr regelmäßig. Aber wir haben inzwischen begriffen, dass die Polizisten uns auch etwas geben können. Deren Auftritte sind mittlerweile Teil der Inszenierung. Wenn wir singen „Was aus mir wird, was aus mir wird, ich werd Terrorist“ und dann tauchen Bullen auf und drehen uns den Strom ab, dann sind die 200 Leute, die zugehört haben, nicht begeistert. Wir könnten Menschen gar nicht so zum Nachdenken bewegen, wie das die Polizei kann.

Gottstein: Eine der erstaunlichsten Erfahrungen, die wir auf unseren Reisen gemacht haben, ist die, dass nicht nur die Polizei oder staatliche Organe uns an unserer Entfaltung hindern wollen, sondern auch ganz normale Menschen. Die wissen genau, was richtig und erlaubt ist, und wir müssen uns dann anhören, das sei nur eine komische Phase und wir sollten endlich mal vernünftig werden.

Zielke: Wir sollten was Anständiges lernen.

Im Dokumentarfilm über euch nennt ihr euch „Nobelpenner“.

Gottstein: Ja, das ist eine Gegenreaktion darauf, dass unser Lebensentwurf von anderen immer wieder in Frage gestellt wird. Aber wir sind schon deshalb keine echten Penner, weil wir uns bewusst für die Obdachlosigkeit entschieden haben. Wenn man etwas freiwillig tut, ist es natürlich viel einfacher, damit umzugehen, als wenn man es gezwungenermaßen tut.

Ist euer Lebensentwurf eine Provokation für Menschen, die ein ganz normales Leben führen?

Gottstein: Ja, es scheint zumindest manche zu geben, die das so empfinden. Und natürlich ist es von uns auch – ein wenig zumindest – als Provokation gemeint.

Seid ihr eine politische Band?

Gottstein: Unsere Musik ist nicht politisch.

Für eine unpolitische Band textet ihr aber ziemlich eindeutige Parolen. Euer eben erschienenes Album heißt „Eine Revolution ist viel zu wenig“.

Zielke: Wir halten beide viel von der Revolution, die in einem selbst stattfindet. Die wird sich schon von selbst nach außen in die Gesellschaft tragen. Die meisten Revolutionen kranken doch daran, dass die Revolution im Bewusstsein nicht gründlich genug war. Deswegen ändert sich nichts und die Revolution implodiert. Wir wollen erst einmal ein paar Revolutionen in uns lostreten, bevor wir das nach außen tragen.

Um die nach außen zu tragen, würdet ihr sogar „Terrorist“ werden.

Gottstein: Mit diesem Song kündigen wir natürlich nicht an, dass wir Angst und Schrecken verbreiten wollen. Für das System, in dem wir leben, wäre es doch gar kein Terror, Bomben zu legen. Für dieses System ist es viel gefährlicher, wenn der Einzelne tut, was er möchte, wenn er sein Leben ausfüllt mit Dingen, die er vertreten kann und die er auch liebt.

Das ist schon Terror?

Gottstein: Das ist unserer Meinung nach ein kleiner Terror.

Zielke: Ich glaube, dass unsere Gesellschaft ziemlich viel Angst hat, wenn Leute ausbrechen aus der vorgezeichneten Karriere aus Kindergarten, Schule, Studium, Beruf, wenn ihnen eine Lücke im Lebenslauf egal ist. Es ist doch absurd, dass einem erst erlaubt wird, frei zu atmen, wenn man mit 60 auf dem Schrotthaufen der Gesellschaft gelandet ist.

Gottstein: Ja, aber wir sind keine politische Band in dem Sinne, dass wir ein politisches Programm hätten oder gar zur Wahl der Linkspartei aufrufen würden. Wir singen nicht: Steh auf gegen Atomwaffen! Wir singen nicht von konkreten politischen Zielen.

Zielke: Vielleicht sind wir keine politische Band, sondern einfach zwei politische Menschen, die Musik machen.

Seid ihr also womöglich eine unpolitische Band mit einer politischen Botschaft?

Großes Gelächter.

Wie könnte diese Botschaft aussehen?

Gottstein: Ich könnte jetzt sagen, mit unserer Musik und unserem Lebensentwurf protestieren wir gegen die kapitalistische Verwertungsgesellschaft. Das würde aber nicht stimmen, weil wir diesen Lebensentwurf nicht politisch entwickelt haben, sondern im Laufe der Zeit da reingewachsen sind. Aber andererseits kann man unser Leben nicht von unserer Musik trennen, für uns sind diese beiden Dinge eine Einheit. Unser Leben spiegelt sich in unserer Musik wider, und das ist uns auch wichtig.

Zielke: Aber noch mal: Wir protestieren nicht gegen irgendetwas, wir tun einfach genau das, was wir tun wollen. Das ist keine politische Aktion, das ist in erster Linie unser Leben.

Wie radikal findet ihr selbst euren Lebensentwurf?

Gottstein: Es ist nicht radikal, keine Wohnung zu haben. Radikal ist es zu sagen: Das und das stört mich in meinem Leben, also weg damit. Zu sagen: So will ich leben und das dann umzusetzen. Wir hatten nicht aus ideologischen Gründen kein Konto, sondern weil wir keins brauchten.

Mittlerweile habt ihr aber ein Konto, oder hat euch der Unterhaltungskonzern Universal, bei dem euer erstes Album erscheint, den Vorschuss bar ausgezahlt?

Zielke: Ja, jetzt brauchen wir ein Konto. Der Vorschuss war mehr als das, was wir mit der Straßenmusik in all den Jahren insgesamt verdient haben.

Wie lässt sich euer Lebensentwurf damit vereinbaren, beim größten Plattenmulti der Welt unter Vertrag zu sein?

Gottstein: Ja, das ist für uns auch die Frage.

Zielke: Das geht insofern zusammen, als dass wir auch bisher niemals vollständig ausbrechen konnten. Wir haben ja auch CDs verkauft und in Supermärkten eingekauft, wir haben uns auch schon früher in kapitalistischen Verwertungszusammenhängen bewegt. Sich völlig gegen das System zu stellen, macht dich vielleicht zum Helden, aber ändert das etwas an den Verhältnissen? Also dachten wir uns, es wäre ehrlicher, unser Im-System-Sein zuzugeben – und auf die Spitze zu treiben, indem wir bei Universal unterschreiben.

Habt ihr vorher nie versucht, reguläre Auftritte zu bekommen oder einen Plattenvertrag bei einer kleinen Indie-Firma?

Gottstein: Nicht wirklich. Wir haben ganz am Anfang mal eine E-Mail an einen Veranstalter geschickt und eine andere an ein kleines Label. Beide erfolglos.

Zielke: Dass wir jetzt bei Universal gelandet sind, liegt vor allem daran, dass die auf uns zugekommen sind – und uns volle künstlerische Freiheit garantieren.

Was wollt ihr damit beweisen? Dass ihr den bösen Konzern austricksen könnt?

Zielke: Wir wollen nichts beweisen. Aber wir wollen sehen, was passiert, wenn Robin Hood den Job des Sheriffs übernimmt. Das ist doch interessant.

Gottstein: Wir haben auch gemerkt, dass so eine Entscheidung uns dazu zwingt, dass wir uns viel intensiver mit uns selber auseinandersetzen. Wir müssen jetzt immer wieder ernsthaft hinterfragen, ob unser Leben noch unserem Ideal entspricht. Seien wir doch ehrlich: Den Robin Hood zu spielen ist einfach. Jetzt aber müssen wir zugeben: Wir sind nicht mehr Robin Hood und wir waren wahrscheinlich auch noch nie Robin Hood.

Also: Es gibt kein richtiges Leben im falschen? Widersprüche sind unvermeidlich, also provoziert ihr gleich mal den denkbar größten?

Zielke: Ja, so kann man das sehen. Dann wird der Widerspruch sichtbar und man kann endlich mal drüber reden.

Denkt ihr, dass ihr auch, wenn ihr euch innerhalb des Systems bewegt, noch eure Inhalte verbreiten könnt?

Gottstein: Das ist auf jeden Fall die Hoffnung.

Zielke: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Thomas Winkler, 48, hat immerhin schon einmal – lang ist’s her – in der Türkei im Straßengraben genächtigt

  Amélie Losier, 37, stammt aus Versailles. Straßenszenen zählt sie zu den wichtigsten Quellen ihrer Arbeit als freie Fotografin