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Archiv-Artikel

Er näht um sein Leben

WÜRDE Andreas Brehm ist obdachlos, lebt im Hostel und näht dort an seiner Modekollektion für die Fashion Week

… Seine Mutter war tot, aber das Geräusch, das ihn an sie erinnerte, war da – monoton, fast ein Herzschlag

VON LUKAS KLEINHENZ (TEXT) UND PIERO CHIUSSI (FOTO)

Vorsichtig hebt Andreas Brehm den Lattenrost seines Bettes. Darunter liegen Stoffe: faltige Wellen, Reste, Stücke mit fransigem Rand. Dunkel, hell, mit Muster. Blau, beige, braun. Dazwischen Perlen und Garn. Er nimmt ein Stück mit Blumenmuster und legt den Rost zurück. Leise, die anderen schlafen.

Brehm ist Designer. Und obdachlos. Im Februar wurde er aus seiner Wohnung geworfen. Seitdem lebt er in einem Hostelzimmer. Und arbeitet dort. Zehn Betten, drei Fenster, nur durch eines fällt Licht. Im Bett rechts von ihm liegt Ruby aus Australien. Über dem Alugestell hängt ihr Slip. Daneben Johann aus Schweden. Er schläft in Jeans, seufzt auf, schläft weiter. Die anderen sieben Betten sind leer.

Im dämmrigen Licht des Fensters steht die Schneiderpuppe. „Der Stoff bestimmt, wo es langgeht“, sagt Brehm. Er legt ihn um die Puppe, steckt ihn fest. Um seinen Hals das Maßband, zwischen den Lippen die Nadeln. Er arbeitet an seiner Herbstkollektion. Während der Fashion Week in Berlin sind Entwürfe von ihm in der Kulturbrauerei zu sehen. „Schnittmuster verwende ich so gut wie nie“, sagt er. Er lasse sich vom natürlichen Fall leiten, der bei jedem Stoff anders ist. Das müsse man in den Fingern spüren. „Voilà!“

Wenn Brehm erzählt, dann viel, mit singender Stimme, durcheinander und manches mehrmals. Von der Geburtstagsfeier im Lafayette, einem Kaufhaus, Wowereit habe ihn vom Buffet weggeschubst. Vom Sieg bei „Du bist die Mode von Berlin“. Von seinem mitternachtblauen Sternenanzug, weil man in Berlin die Sterne so selten sieht, aber gewonnen habe er im Schottenrock, jetzt ist der Frack sein Markenzeichen. Auch von der besten Freundin, einer echten Grande Dame der Fashion Week. Und ja, vielleicht war er als Altenpfleger glücklicher.

Andreas Brehm wurde in Sonneberg geboren, einer Kleinstadt in Thüringen. Er ist elf, als seine Mutter stirbt. Sein Vater ist Alkoholiker. Er zieht zur älteren Schwester. Nach der Schule wird er Koch. Weil das der kreativste Beruf war, der zur Wahl stand.

Sein Vater kommt auf Entzug. Bei einem Sturz auf der Kliniktreppe bricht er sich die Wirbelsäule. Brehm macht seinen Zivildienst als Altenpfleger – auch um dem querschnittsgelähmten Vater zu helfen. Später ermöglicht ihm das Leonardoprogramm eine dreijährige Gastronomie-Weiterbildung in Frankreich. Nach dem ersten Jahr stirbt der Vater. Brehm kommt zur Beerdigung. Nach drei Wochen kehrt er nach Frankreich zurück. Sein Chef findet das zu lang und entlässt ihn.

Mit einundzwanzig geht er nach Berlin, jobbt in einer Schneiderei, dann wird er Koch im Tipi, dem Veranstaltungszelt vor dem Kanzleramt. Mit sechsundzwanzig die Diagnose: Hirntumor. Spastische Zuckungen machen das Arbeiten in der Küche unmöglich. Brehm schult um zum Modellmacher. Die Zuckungen verschwinden wieder, der Tumor bleibt.

„How is it going?“ Johann ist wach. Er lebt seit einem halben Jahr im Hostel. „Johann, my sunshine!“ Brehm breitet die Arme aus. Sein Zimmergenosse lacht, schlurft zu ihm, klopft ihm auf die Schulter. Die beiden beginnen ein Gespräch, versuchen es. Brehm spricht kaum Englisch. Johann lacht. „We have our own language.“

„Johann ist DJ. In New York war er echt groß und ist echt abgestürzt.“ Brehm kann das so sagen, Deutsch versteht ohnehin keiner. Johann ist auch schon aus dem Zimmer. Man hört einen Wasserhahn, ein Handy vibriert.

Er dreht sich zur Puppe. „Vielleicht könnte man das so… Nein!“ Der Stoff gefällt ihm nicht. Er nimmt ihn ab, schneidet ein, reißt, zieht. Ratsch.

An einem Freitagmorgen im Februar standen sie vor seiner Tür: die Hausverwaltung, der Gerichtsvollzieher, Sicherheitsleute, der Hausmeister. Es war sein dreißigster Geburtstag. Draußen lag Schnee. Eine Viertelstunde habe er Zeit, das Wichtigste zu packen, die Wohnung zu räumen. Der Grund: 200 Euro Mietverzug, mehrfache Abmahnung.

Brehm und eine Freundin, die bei ihm übernachtete, packen hastig zwei Koffer. „Ich wusste nicht, was ich mitnehmen soll.“ Papiere oder Klamotten? Nähmaschine oder Bettzeug?

Einen Mantel soll er mitnehmen, es ist kalt draußen, habe einer der Leute vom „Räumdienst“ gesagt und ihm die Nummer einer Notunterkunft für Obdachlose gegeben. Zu denen gehört Brehm jetzt.

Im Hostelzimmer hängt der Geruch von Schlaf. Brehm kippt ein Fenster. Das Hostel liegt im Erdgeschoss. „Manchmal sitzt ein Hund davor und schaut mir zu.“ Der Hund habe eine kahle Stelle am Kopf. Und eine Narbe.

Neben der Puppe steht ein Paravent, den Brehm auf der Straße gefunden hat. Er hat ihn mit schwarze Linien bemalt. „Das sollen Birken werden.“ Die würden ihn an seine Mutter erinnern. Ohne sie wäre er kein Designer. „Sie hat viel genäht.“ Als Kind habe er sich oft vor die Nähmaschine gesetzt und sie laufen lassen. Seine Mutter war tot, aber das Geräusch, das ihn an sie erinnerte, war da – monoton, fast ein Herzschlag. Irgendwann fängt er an, Faschingskostüme für seine Freunde zu nähen.

Johann schlurft zurück ins Zimmer. Ein Handy vibriert. „Is there a bomb in this room?“

„Ja, Johann! A bomb, watch out!“ Brehm hechtet zum Spind, zieht eine Bratpfanne heraus. „I can protect you with this Pfanne.“ Die beiden tollen durchs Zimmer. Brehm schleudert die Pfanne zurück, es knallt. „Psssst!“ Aber die Australierin ist schon wach. Mit abstehenden Haaren sitzt sie im Bett und fragt, wem das fucking Cellphone gehört.

Nach der Räumung schläft Andreas auf dem Fußboden einer renovierten Wohnung. Aus der ist eine Freundin gerade ausgezogen, der Nachmieter noch nicht da. Die Zimmer sind leer, die Wände weiß. Die Freundin bringt ihn auch auf die Idee, im Corner Hostel einzuziehen. Das Jobcenter zahlt die 16 Euro pro Nacht. Er nimmt seine zwei Koffer, quartiert sich in Zimmer Nummer 6 ein – vorübergehend. Es werden Monate daraus.

An der Tür hängt ein Kalender, auf dem Brehm jeden Tag abhakt. „Um das irgendwie optisch zu haben.“ Vieles aus den zwei Koffern ist in zwei Spinde gewandert. Anderes, wie auch seine Sachen aus der Wohnung, zu seiner Schwester in Thüringen. Um den unteren Bereich eines Hochbetts hat Brehm ein rotes Tuch gehängt. „Mein Himmelbett.“ Sein Dach ist die Unterseite einer Matratze, auf der alle paar Tage jemand anderes schläft.

Seine Mutter hat viel genäht. Als Kind habe er sich oft vor die Nähmaschine gesetzt und sie laufen lassen …

Wenn Brehm traurig ist, macht er Pfannkuchen. „Auch nachts um drei.“ Oder er setzt sich an die Nähmaschine von „Mama Funda“, der Besitzerin des Hostels, und näht irgendwas zusammen. Vorhänge und einen Lampenschirm für den Gemeinschaftsraum. Manchmal räumt er auch die Küche auf und stellt sich vor, es wäre seine.

Zwischen Chipstüten, Deodorants und Ladekabeln steht Andreas’ Laptop. Wenn er bei Google „Der Modezar“ eingibt, erscheint sein Bild vor dem von Lagerfeld, Moshammer oder Glööckler. Das freut ihn.

Er zeigt das Video der „Fashion Night Cocktail 2011“. Sein bisher größter Erfolg als Designer. Man sieht Gäste mit Champagner, Frank, den Weddingplaner und andere B-Promis im Smalltalk. Vierhundert Leute, ein Laufsteg. Brehms Kollektion ist schlicht. Viel Weiß, viele Naturtöne. „Und das Kleid hier ist aus der Tischdecke meiner Oma.“

Brehm arbeitet gern mit Stoffresten, um Geld zu sparen. Zwar verkauft er das ein oder andere, aber das reicht nie lange. „Obwohl einem schlecht wird bei den Preisen.“ Sowieso diese Reichen und ihre Partys. Und ihre Sorge um Austern und Champagner. Andererseits ist er schon abhängig von Gönnern und Mäzenen.

Aber nicht nur.

Die Fäden seines Lebens, die knüpft er selbst zusammen.

Drei Tage die Woche geht er an die Ellen-Key-Schule am Ostbahnhof. Die Schüler können einen Kurs belegen, in dem aus alten Bettlaken Klamotten geschneidert werden. Brehm ist ihr Lehrer. Wenn er eine Klasse zum ersten Mal unterrichtet, komme er im Anzug. Und mit schwarzer Aktentasche. Die lasse er aufs Pult krachen. Rums. „Ich bin Herr Brehm.“ Dann würden die Kinder ganz geduckt an ihren Tischen sitzen. „Und ich gebe euch jetzt allen eine Eins.“ Sie glauben ihm nie. „Doch. Weil ihr da seid“, sagt er dann. „Und ihr könnt mich duzen.“

Fashion Week Berlin, bis zum 7. Juli. Andreas Brehms Kollektion ist im Theaterstück „Der Modezar“ zu sehen