: Für die Opfer, von denen lange keiner sprach
GESCHICHTE In Tiergarten beginnt heute der Bau eines Denkmals für die etwa 200.000 behinderten Kinder und Erwachsenen, die von den Nazis bei deren „Euthanasie“-Aktion ermordet wurden
Eine Glaswand, mehr als 30 Meter lang, hellblau eingefärbt, errichtet auf dunklen Betonplatten, dazu eine lange Sitzbank und ein Informationspult. Dort werden Lebensgeschichten derjenigen zu lesen sein, um die es bei diesem Denkmal geht: die Opfer der zynisch „Euthanasie“ (griechisch für: Erleichterung des Sterbens) genannten Mordaktion der Nationalsozialisten an geistig und körperlich Behinderten.
70 Jahre nach den Morden
Die Architekten Ursula Wilms, Nikolaus Koliusis und Heinz W. Hallmann haben das Mahnmal im Auftrag des Deutschen Bundestags geschaffen. 70 Jahre nach den Morden an etwa 200.000 Menschen beginnt am heutigen Montag der Bau. Endlich. Denn der organisierte Massenmord an Behinderten ist ein bis in die jüngste Vergangenheit gern beschwiegenes und verdrängtes Kapitel der Geschichte von Deutschland und Berlin.
Beschwiegen, weil viele der Familien, denen ihre Verwandten entrissen wurden, dies stillschweigend, manchmal gar zustimmend hinnahmen. Erst jüngst hat der Historiker Götz Aly darauf hingewiesen. Sicher machten fehlende soziale Hilfe, Armut, beengte Wohnverhältnisse das Leben mit Behinderten schwieriger als heute. Auch waren die Familien nicht darüber informiert, was mit ihren Angehörigen geschah – schließlich war die Mordaktion „geheime Reichssache“. Aber geahnt haben dürften viele, dass da „nachgeholfen“ worden war, wenn sie erfuhren, dass ihr Angehöriger kurz nach der Verlegung in eine Anstalt verstorben war.
Das Denkmal, zu dessen Baubeginn heute Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) sprechen wird, steht genau dort, wo sich die Dienststelle der Mörder befand: an der Tiergartenstraße 4, in einer enteigneten jüdischen Villa, was der Aktion den Tarnnamen „T4“ gab. Begonnen hatte alles lange vor der Machtübernahme der Nazis. „Rassenhygiene“ galt schon zu Weimarer Zeiten als anerkannte „Wissenschaft“. Das Sterilisationsgesetz, mit dem das NS-Regime die Bekämpfung „vererbbarer Verbrecheranlagen“ und „asozialen Verhaltens“ legitimierte und Behinderte aus der „Volksgemeinschaft“ ausschloss, hatte in Preußen im Jahre 1932 einen Vorläufer, der freilich keine Mehrheit fand.
Mord an den Kindern
Die Endstufe dieses Terrors gegen Behinderte begann 1939 mit dem Mord an den Kindern. Anstoß gab das angeblich „idiotische“ Baby einer Familie Knauer, dessen Eltern bei Hitler persönlich darum ersuchten, dass ihr Kind getötet werden solle, was auch geschah. Kurz darauf schufen die Nazis eine Geheimorganisation, angesiedelt bei der „Kanzlei des Führers“, die den Mord an behinderten Kindern zum Programm erhob. Mit willigen Ärzten entstand die Tötungstruppe mit dem unverdächtig klingenden Namen „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“.
Die meisten Kinder starben durch die medikamentöse Überdosen. Manche ließ man aber auch planmäßig verhungern. Von Hermann Pfannmüller, damals Leiter der Mordanstalt Eglfing-Haar, ist von Augenzeugen die Aussage überliefert: „Diese Geschöpfe stellen für mich als Nationalsozialist natürlich nur eine Belastung unseres gesunden Volkskörpers dar. Wir töten nicht durch Gift, Injektionen und so weiter. Nein, unsere Methode ist viel einfacher und natürlicher, wie Sie sehen.“ Dazu werde die Nahrung nicht plötzlich entzogen, sondern die Rationen allmählich verringert. Pfannmüller, so berichtete der Augenzeuge, nahm darauf ein Kind aus seinem Bettchen und sagte: „Bei diesem zum Beispiel wird’s noch 2 bis 3 Tage dauern.“ Mindestens 5.000 behinderte Kinder wurden bis 1945 getötet.
T4, die weit verzweigte Organisation zum Mord an erwachsenen Behinderten, begann bald darauf. In ganz Deutschland entstanden „Heilanstalten“, deren einziger Zweck die Tötung war. Amtsärzte und Pflegeeinrichtungen wurden zu extrem oberflächlichen Diagnosen über den Zustand ihrer Patienten aufgefordert, zentral in Berlin wurde dann entschieden, wer getötet werden sollte – der schon erwähnte Pfannmüller traf täglich im Schnitt 121 Entscheidungen über Leben und Tod. Die Patienten endeten in den „Pflegeanstalten“, wo man noch rasch markierte, wer wertvolle Goldzähne trug, und sie dann mit Gas tötete.
Kein Zufall also, dass viele der „Euthanasie“-Täter bald darauf das Leitungspersonal für den Holocaust stellten. Wie etwa Irmfried Eberl: Anwesend bei Probevergasungen in Brandenburg, 1942 dann Chef des Vernichtungslagers Treblinka im deutsch besetzten Polen, wo Hunderttausende Juden ermordet wurden. Nach dem Krieg praktizierte er zunächst ungestört als Arzt im schwäbischen Blaubeuren. Nach seiner Festnahme 1948 in Ulm nahm er sich das Leben. KLAUS HILLENBRAND