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Archiv-Artikel

„Wir hatten wahnsinnige Angst“

AUS GENUA MICHAEL BRAUN

„Scuola Diaz?“ Die Beamtin im Justizpalast von Genua macht eine Kopfbewegung in Richtung Treppe: „Aula Magna.“ Großer Sitzungssaal also. Wo sonst sollte dieser Prozess stattfinden? Verhandelt wird gegen 28 Angeklagte, 93 Personen sind als Geschädigte aufgelistet, und die Bilder vom Tatort, von blutverschmierten Heizkörpern und Fußböden, von verwüsteten Klassenzimmern und auf Tragen gebetteten Schwerverletzten gingen im Juli 2001 um die Welt.

Aula Magna also. Die Treppe runter, eine Glasfront, dahinter der Saal mit den Ausmaßen einer Sporthalle, die hohen Seitenwände mit mattschwarzen Steinplatten verkleidet, die Stirnwand in hellgrauem Marmor. Gleich fünf Polizisten sind zur Ausweiskontrolle abgestellt. 150 Ledersessel stehen für Zuschauer und Presse bereit, an sechs langen Tischen haben auf der einen Seite die Angeklagten und ihre Verteidiger Platz, auf der anderen die Staatsanwälte und die Anwälte der Nebenkläger.

Ein großer Saal für einen großen Prozess. Das Gericht tritt ein – und so gut wie niemand erwartet es. Kein Angeklagter befindet sich im Raum, keine Presse, selbst die Reihen der Anwälte sind dünn besetzt. Bei einer Verhandlung wegen Beförderungserschleichung oder Ladendiebstahl könnte das öffentliche Interesse kaum geringer sein. „Als erster Zeuge ist Thorsten H. aufgerufen“, sagt der Vorsitzende. Ein junger Mann, den Rucksack über der linken Schulter, schlendert an leeren Zuschauerplätzen vorbei nach vorn.

Mit seinen olivgrünen Hosen und dem blauen Kapuzenshirt, mit seinen Piercings in Nase und Ohr sieht Thorsten H. wohl genau so aus, wie ein italienischer Polizist sich einen deutschen Globalisierungsgegner vorstellt. Der heute 32 Jahre alte Hamburger war im Juli 2001 in Genua, um gegen den G-8-Gipfel zu demonstrieren. Jetzt soll er über seine Erfahrungen mit der italienischen Polizei aussagen. Staatsanwalt Enrico Zucca, schlank, mit schlohweißen Haaren und Vollbart, fragt sich mit sanfter Stimme durch die Nacht, als die Scuola Diaz von hunderten Polizisten in Kampfmontur gestürmt wurde.

Thorsten H. erzählt, wie er sich mit zwei Freunden in der Schule einquartiert hatte, die den Demonstranten von der Stadt Genua als Übernachtung zur Verfügung gestellt worden war. „Die Stimmung war gelöst, viele Leute waren da, es war ein Kommen und Gehen.“ Plötzlich war es vorbei mit der Ruhe. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass die Polizei anrückt. „Wir hatten wahnsinnige Angst“, sagt Thorsten H. „Wir standen auf dem Flur im ersten Stock, dann hörte ich auch schon Geschrei und Gepolter von unten.“

Fragen und Antworten werden natürlich übersetzt. Manchmal hat der Hamburger Thorsten H. Probleme; die Dolmetscherin nämlich schwäbelt schwer: „Da hascht also auf dem Flur g’standen.“ Der Zeuge fährt fort.

Polizisten seien die Treppe hochgerannt, „die fingen sofort an, auf mich einzuschlagen. Am Anfang stand ich noch, mit erhobenen Händen, dann wurde ich zu Boden geschlagen.“ Die Beamten ließen von H. ab, um im hinteren Teil des Flurs weitere Anwesende zu verprügeln; anschließend wurden alle die Treppe hinunter in die Turnhalle gebracht, auf dem Weg setzte es Hiebe und Tritte. „In der Halle waren schon viele Leute, die auf dem Boden lagen oder saßen, die verletzt waren und schrien, einige bewegten sich gar nicht mehr.“

Während Thorsten H. spricht, blättert einer der Verteidiger gelangweilt in Akten, ein anderer fummelt unter dem Tisch an seinem Handy herum, eine der beiden Beisitzerinnen kämpft sichtlich gegen ihre Müdigkeit an.

Lange habe es dann gedauert, berichtet der Zeuge, bis Sanitäter gekommen seien, um die Verletzten zu versorgen. Inzwischen hätten die Polizisten alle Rucksäcke auf einen großen Haufen ausgeleert. Der Staatsanwalt will nun wissen, ob Thorsten H. Gegenstände vermisst. Auf einem Bildschirm werden die Fotos von der Polizei-Pressekonferenz nach dem Sturm auf die Scuola Diaz gezeigt. Man sieht eine Thermoskanne, zwei Weinflaschen, umfunktioniert zu Molotowcocktails – die, wie man heute weiß, die Polizei in die Schule gebracht hatte. Man sieht Handys, Fotoapparate und jede Menge Campingmesser. „Das da könnte meins sein“, Thorsten H. zeigt auf etwas, was er „Multifunktions-Tool“ nennt. Nein, sagt er, er habe nie ein Beschlagnahmeprotokoll erhalten, das Messer nie wiederbekommen.

Noch einen Film zeigt der Staatsanwalt: Ein völlig verängstigter junger Mann mit Rastalocken sitzt direkt an der Schiebetür eines Polizeibusses, die ganze Zeit hält er die Hände schützend über den Kopf. Thorsten H. nickt stumm, er erkennt sich auf der Aufnahme wieder. Wie die anderen wurde H. ins Polizeigefängnis Bolzaneto geschafft, dort gingen die Misshandlungen später weiter.

Nein, die Verteidiger haben keine Fragen. Es scheint, als hätten sie den Prozess schon verloren gegeben, keiner von ihnen versucht, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Zweifel zu ziehen. Nur der Verteidiger von Vincenzo Canterini, des Kommandanten, der den Prügeltrupp angeführt haben soll, hakt nach. Er will nun wissen, ob Thorsten H. sich an „schwarze Kleidungsstücke“ bei den Übernachtungsgästen in der Schule erinnere. Der Vorsitzende verdreht die Augen. Er hält erkennbar nichts von dem Versuch des Anwalts, den „Schwarzen Block“ – jene Demonstranten, die in Genua tagelang Banken, Geschäfte und Autos abgefackelt hatten – in die Schule hinein- und so mildernde Umstände für seinen Mandanten herbeizufragen.

Anders als Thorsten H. war sein Freund Christian G., der zweite Zeuge, einer der wenigen in der Schule, die nicht verprügelt wurden. Er erzählt ruhig und sachlich von dem Drama jener Nacht. Ob seine Freundin Widerstand geleistet habe, wird er gefragt. „Ich habe überhaupt niemanden gesehen, der sich gewehrt hat.“ Wahllos hätten die Polizisten auf die Menschen eingeprügelt, in der Turnhalle dann auf die Verletzten. „Einige haben geweint, es war eine furchtbare Situation für mich.“ Auch er kam anschließend nach Bolzaneto. „Keiner hat uns gesagt, dass wir festgenommen sind. Keiner hat uns gesagt, wohin wir gebracht werden. Keiner hat erklärt, was uns vorgeworfen wird oder dass wir das Recht auf einen Anwalt haben.“ Ob er heute noch Folgen spüre, lautet die Frage. „Ich versuche seitdem, Uniformen zu meiden.“

Deutlicher wird die dritte Zeugin. Die junge Italienerin sieht mit Brille, Zopf und hellbrauner Strickweste eher aus wie eine katholische Laienaktivistin als wie eine militante Globalisierungskritikerin. „Einen der schwärzesten Momente meines Lebens“ habe sie in der Turnhalle der Scuola Diaz erlebt – unter all den stöhnenden, blutenden Menschen, die überall auf dem Boden lagen. Sie, die nur ein paar Hiebe mit dem Schlagstock abgekriegt hat, habe die ganze Zeit ihrem Freund zugeflüstert: „Wir haben Glück gehabt, wir haben Glück gehabt“, während sie an Blutlachen vorbei abgeführt wurden. Ein Polizist habe ihr zugezischt: „Keiner draußen weiß, dass wir hier sind, wir machen euch jetzt komplett fertig.“ Wochenlang habe sie später von Polizisten geträumt, die in ihre Wohnung eindringen.

Die vier Polizisten, die die Türen im Saal bewachen, schauen erkennbar mürrisch drein bei dieser Aussage; zwei Männer im Zuschauerraum, augenscheinlich Zivilbeamte, schreiben eifrig mit; die müde Beisitzerin ist mittlerweile fast eingeschlafen. „Sie können gehen, danke fürs Kommen“, verabschiedet der Vorsitzende die Zeugen.

„So ist es hier fast immer“, sagt draußen Carlo Quartino. Er stellt mit zwei weiteren Leuten vom Genoa Legal Forum, dem Büro, das für die Globalisierungskritiker die Prozesse juristisch begleitet, den Rest des Publikums. „Außer uns und den Zivilbeamten kommt praktisch keiner.“ Thorsten H. ist das fehlende öffentliche Interesse momentan egal. Er wirkt erleichtert nach seiner Aussage. „Ich habe bis zuletzt mit mir gekämpft, ob ich kommen soll“, sagt er. „Für mich ist wichtig: Ich bin nicht ausgewichen. Ich konnte hier in angemessenem Rahmen sagen, was damals geschehen ist – nicht wie bei den absurden Befragungen nach meiner Festnahme, nach drei Tagen ohne Schlaf und Essen.“ Nur eins ist er nicht losgeworden: „Ich hätte gern noch was gesagt zu den Panikattacken, die mich bis heute verfolgen.“ In der Nacht vor dem Prozess habe er lange wach gelegen. Seine Angst: „Da steht plötzlich ein Zivilcop auf und sagt, dich hab ich doch damals bei den Ausschreitungen gesehen, und die verhaften mich gleich im Gerichtssaal und sperren mich ein paar Jahre lang weg.“

Christian G. nickt. „Das war total befreiend, hier auszusagen. Für mich ist wichtig, dass mit dem Sturm auf die Schule nicht einfach Schluss war, dass es einen Prozess gibt, der das aufarbeitet.“ Bis zu 15 Jahren Haft hätten ihm damals gedroht, wegen der von der Polizei gefälschten Beweise – „ich hab da in der Zelle schon angefangen, mein Leben umzuplanen“. Zwei Sachen sind ihm wichtig: „Die 25 Demonstranten, gegen die jetzt auch in Genua der Prozess geführt wird, wegen Verwüstung und Plünderung, die dürfen wir nicht vergessen. Das ist genau die gleiche Anklage, die wir auch kriegen sollten.“ Dann grinst er. „Und zweitens, wenn die glauben, sie haben uns den Spaß am Protest genommen, dann irren sie sich schwer. In Heiligendamm, beim G8 nächstes Jahr, sind wir wieder da.“