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Archiv-Artikel

Der tiefe Staat west fort

WILLKÜR Der Sturm auf die Bastille und die NSA

In der Bastille saßen die Häftlinge wegen eines „lettre de cachet“, eines „Geheimbriefs“, ein

Als eine erzürnte Menge vor zweihundertundvierundzwanzig Jahren, am 14. Juli 1789, die Bastille in Paris stürmte, befreite sie dort gerade einmal sieben Personen. In den Kerkern vegetierten zwei Verrückte, vier Fälscher und ein Adliger. Zudem befand sich dort ein riesiges Polizeiarchiv, das alsbald in Flammen aufging.

An der Bastille und ihren Häftlingen ist vor allem bemerkenswert, wie sie dorthin kamen. Keineswegs war das Ancien Régime unter dem unseligen letzten Bourbonen, Ludwig XVI., ein reiner Unrechtsstaat – Kriminalverbrechen wurden in ordentlichen, wenn auch nicht strikt öffentlichen Gerichtsverfahren geahndet. Das galt aber nicht für jene Personen, die in die Bastille verbracht wurden. Sie saßen dort aufgrund eines „lettre de cachet“, eines „Geheimbriefs“, aufgrund dessen beliebige Personen heimlich auf Jahre aus dem Verkehr gezogen werden konnten. Die „lettres de cachet“ waren versiegelte Briefe mit der Signatur des Königs oder eines Ministers; sie waren beim zuständigen Polizeichef, dem „lieutenant general“ in größeren Mengen vorrätig und konnten jederzeit gegen Missliebige eingesetzt werden. Die französische Nationalversammlung schaffte dies Mittel politischer Willkür schon vor dem Sturm auf die Bastille, im Juni 1789, ab. Napoléon aber führte sie 1811 wieder ein.

Rückfälle in absolutistisches Gebaren sind jederzeit möglich. Um das einzusehen, muss man weder Paranoiker sein noch mit Dan Brown an den unheilvollen Einfluss von „Illuminati“ glauben. Anfang der Woche erinnerte die New York Times ihre Leser an die Existenz eines zweiten, die Bürgerrechte einschränkenden „Supreme Court“, der neben dem US-amerikanischen Verfassungsgericht in aller Stille den elektronischen Abschöpfaktionen der NSA ein rechtsstaatliches Mäntelchen umhängte. Dass die Arbeit, nicht die Existenz dieses „rechtsstaatlichen“ Gremiums geheim bleiben muss, ist logisch: Öffentliche Verhandlungen könnten ja eventuelle Zielpersonen oder -gruppen warnen.

Als Vorsitzender dieser neben dem offiziellen Verfassungsgericht urteilenden Kammer fungiert John Roberts – im normalen Leben Vorsitzender des Supreme Court. Das alles geschieht auf Basis des „FISA“, des „Foreign Intelligence Surveillance Act.“ Man wähne aber nicht, dass dies Gesetz als Reaktion auf die mörderischen Anschläge von 9/11 geschaffen wurde. Damals wurde es nur verschärft. Eingebracht wurde es von dem als liberal geltenden Edward Kennedy und unterschrieben von Jimmy Carter 1978.

Der Absolutismus ist nie völlig überwunden worden, er west als „tiefer Staat“ – den es keineswegs nur in der Türkei gibt –, als immerwährende Möglichkeit westlicher Demokratien geisterhaft fort. MICHA BRUMLIK