DER ZEITPUNKT : 6. 9. 1968
■ Die Lateinamerikanische Bischofskonferenz legitimiert in Medellín den bewaffneten Widerstand gegen staatliche Repression und Folter.
Wenn Papst Franziskus am Montag in Rio de Janeiro mit einer Million junger Brasilianer auf dem Weltjugendtag zusammenkommen wird, wird er die sozialen Proteste legitimieren, die in den letzten Wochen in Rio und anderen Städten aufflammten.
Eigentlich war die Rede längst geschrieben, als drei ranghohe Würdenträger der brasilianischen Kirche, unter ihnen der Erzbischof von Rio, den Papst auf die staatliche Repression der Proteste aufmerksam machten. Wie die spanische Zeitung El País meldete, schrieb Franziskus daraufhin Teile seiner Rede um. Nun wird er der brasilianischen Jugend verkünden, dass die Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit im Einklang mit dem Evangelium stehen.
Die Haltung des Papstes ist revolutionär für den Vatikan – nicht aber für die Katholische Kirche fernab des Heiligen Stuhls in Rom. Theologen in Lateinamerika sahen bereits vor mehr als 40 Jahren in der Unterdrückung der Armen eine „strukturelle Sünde“. So formulierten es die lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín am 6. September 1968 in dem Abschlussdokument der zweiten Bischofskonferenz. Dessen Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Befreiungstheologen wie der brasilianische Erzbischof Hélder Câmara riefen Christen dazu auf, „kühn und mutig der kollektiven Ungerechtigkeit entgegenzutreten“.
Der Appell entfaltete seine volle Wirkung in der Zeit der Militärdiktaturen in den 70er Jahren, in der sich viele Geistliche für den bewaffneten Widerstand gegen Staatsterror und Folter aussprachen – und oft selbst der Diktatur zum Opfer fielen. Das Schweigen der Katholischen Kirche zu diesen Verbrechen hat bis heute tiefe Wunden in den Gesellschaften hinterlassen. So auch in Argentinien, dem Herkunftsland von Papst Franziskus, in dem während der „bleiernen Jahre“ von 1976 bis 1983 30.000 Personen „verschwanden“.
Die Vorwürfe der Mittäterschaft richten sich auch gegen den heutigen Papst, der mit den Juntaführern kollaboriert haben soll. Als Papst verurteilt Jorge Bergoglio nun die Niederknüppelung der sozialen Proteste in Brasilien. Für Opfer und Hinterbliebene der Militärdiktaturen kommt diese Haltung jedoch zu spät.RALF PAULI