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Archiv-Artikel

Müll and the city

Hamburg, Hannover, Lüneburg, Göttingen: Seit dem Streik der Müllabfuhr wissen etliche Städte im Norden, was Dreck heißt. Mit dem Ende des Streiks in Hamburg startet in der Hansestadt heute das große Reinemachen und auch in den niedersächsischen Städten wird der Müll wieder abgefahren. Mit dem Ausnahmezustand verschwinden auch die außergewöhnlichen Stadtansichten, die der Müll produzierte. Ein Blick zurück von Mauricio Bustamante (Fotos) und Jens Fischer (Text)

Ein Sonntag in Hannover – darauf lässt man sich im niedersächsischen Weserstädtchen Nienburg gern einmal ein, um ein wenig metropolitan gewürzte Luft zu schnuppern und vom großen Kulturangebot zu kosten, das wir mit unseren kleinen Steuergeldern aus der Provinz ja mitfinanzieren.

Klar, unser Hannover ist nicht so schick borniert wie Hamburg, nicht so gemütlich gelackt wie München, nicht so mies gelaunt hip wie Berlin, nicht so blödsinnig fidel wie Köln. Unser Hannover – hat kein Image, braucht kein Image – ist einfach Hannover. Fünfziger-Jahre-Wohnblocks und Siebziger-Bürobauten sind rechts und links der Bahnstrecke zu sehen, wenn man die Stadtgrenze passiert hat. Grau sehen die auch im Sommer aus, nicht schäbig, nur grau.

Glamour gibt es in Hannover nicht, nur Straßenlaternenlicht. Die vernarbte City ist ein architektonischer Sündenpfuhl, aber halbwegs gepflegt. Nichts besonderes. Aber die Hauptstadt Niedersachsens. Nur heute ist nicht einmal das königliche Reiterstandbild des Ernst-August vorm Hauptbahnhof zu sehen. Majonnaise-saftiges Papier klatscht mir vor die Augen, unterm Schuh quillt eine Matschepampe aus aufgeweichten Zeitungen und dem vegetarischen Rest eines Döners. Es stinkt erbärmlich. Die Kulturoase, die Expo- und Messestadt ist nur noch die Hauptstadt des Drecks.

Schnell den Schmier vom Gesicht gewischt, sicheren Halt gesucht und einen Weg gebahnt durch die Mülllandschaft. Schon klebt ein bekotztes Taschentuch an meiner Jacke, während ich von einem herumtaumelnden Müllsack attackiert werde. Und es wird noch schlimmer in der Haupteinkaufsstraße. Die Hundebesitzer haben mit ihrem Geheimauftrag, alle Städte der Welt zukoten zu lassen, bereits begonnen. Auch sonst sind die Bäume der Fußgängerzone ja immer von Pisse umspült und mit Häufchen verziert, am heutigen Karnevalssonntag aber schmiert der Scheiß überall herum.

Fast sämtliche Mülleimer sind zudem umgekippt, erbrechen ihren Inhalt aufs Pflaster. Ein Fest für die Tauben. Nicht für Schaufensterbummler. Sie verdrücken sich in die Seitenstraßen, wo nur Papier und Pappe durch die Lüfte tobt. Heute versteht man den guten Friedrich, warum er auf dem Sockel gegenüber seiner Schillerstraße immer so grimmig dreinschaut. Und warum der Imbissbetreiber dahinter so gestresst wirkt. Muss er doch den Wurstkult auf seinen Bistrotischen von den Ekelkehricht-Attacken frei halten.

Ähnlich anstrengend gestaltet sich der Betteljob der Obdachlosen: gerade demütig hingesetzt, schon von einem Abfallberg zugeweht. Oder ist das alles nur eine Installation des Aktionskünstlers HA Schult? „Wir produzieren Müll, sind aus Müll geboren und werden wieder zu Müll“, sagt der doch immer. Und hatte er nicht mal auf der „documenta“ eine „biokinetische Konsumlandschaft aus Wohlstandsmüll und Bakterienfeldern“ eingerichtet, in der ein Soldat 100 Tage lang überleben musste? Als Vision für den 26.2.2006 in Hannover? Egal.

Ich flüchte in den Tempel der Kunst, die Staatsoper, wo der Klang von Wagners „Fliegendem Holländer“ das Publikum erheben, vom Elend da draußen erlösen soll. Aber die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bietet nur ihre aktuelle Dienstleistung an: Streik. Der einzige öffentliche Raum, wo der Dreck der Gesellschaft nicht erduldet werden muss, sondern auf künstlerischem Niveau verhandelt und auch sonst alles diskutiert werden kann, wird durch die Gewerkschaft geschlossen. Kein Fluchtpunkt, nirgends.

Also Flucht heim. Zurück in die Provinz. In Nienburgs Theater gibt es zwar am 10. März nur Bizets „Perlenfischer“ mit Solisten, Chor, Ballett und Orchester der rumänischen Staatsoper Jassy zu erleben, aber das wird immerhin stattfinden und der Weg zum Theater sauber sein. Jetzt müssen wir aber erst mal unsere Kleidung wechseln. Eingemüffelt und zugefleckt von Hannover. Unserem schönen Hannover. Das bestimmt nicht die Reinigung bezahlt.

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