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Archiv-Artikel

Sieg im Gleichmäßigkeitsrennen

Mit „Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo“ hat der argentinische Schriftsteller César Aira die fintenreiche Geschichte einer literarischen Fälschung geschrieben. Damit erweist er sich endgültig als legitimer Erbe von Jorge Luis Borges

von MAJA RETTIG

1923, in Panama. Ein kleiner Ministerialbeamter erhält seinen Monatslohn in Falschgeld ausbezahlt. Am Ende der zwölf Stunden, die darauf folgen, wird er ein geniales Gedicht geschrieben haben, „das berühmte Meisterwerk der modernen mittelamerikanischen Lyrik, ‚Der Gesang des jungfräulichen Kindes‘ “ – obwohl er weder davor noch danach jemals das Geringste mit Literatur zu tun gehabt hat.

Da ist sie, die unerhörte Begebenheit, da ist er, der Novellenstoff. Die Gattungsbezeichnung ist zwar eine Erfindung der deutschen Ausgabe, aber sie passt. Ebenso trifft der ausgeschmückte deutsche Titel „Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo“ bereits mehr vom Ton des schmalen Buchs als das schlicht nach dem Helden benannte spanische Original „Varamo“. Nein, weder Varamo noch sein sagenhaftes Versepos haben wirklich existiert; man wird das überprüfen wollen.

Dies ist das vierte auf Deutsch erschienene Buch des 1949 geborenen Argentiniers César Aira, der oft mit Borges verglichen wird; das zweite, „Humboldts Schatten“, handelte von einer verbürgten Figur, dem Landschaftsmaler Humboldts in Südamerika. Varamo dagegen ist frei erfunden.

Der Aufwand, den der Erzähler treibt, uns das Gegenteil glauben zu machen, ist beträchtlich. Er betreibe eine „historische Rekonstruktion“ der Ereignisse, die zu dem Meisterwerk geführt haben: Dies sei ein Buch über Literaturgeschichte. Sein quasiwissenschaftlicher, scheinbar streng kausaler Ton leistet ihm vermeintlich Vorschub. Man erfährt aber, dass dieser Rekonstruktion keinerlei biografische Quellen zugrunde liegen– das Gedicht selbst ist die einzige erhaltene Dokumentation! Weit davon entfernt, dies als Problem zuzugeben, behauptet der Erzähler, die Realität, die es hervorgebracht habe, sei aus dem Werk selbst abzuleiten. „Der Kritiker muss lediglich jeden Vers, jedes Wort in den Realitätspartikel übersetzen, der sie verursacht hat.“ Mehr noch: Gerade weil Varamos Werk avantgardistisch sei, erlaube es diese Ableitung.

Das ist natürlich blanker Unsinn, die Verletzung sämtlicher literarischer Gesetze – mit denen sich der Erzähler bestens auskennt. Doch wo war nun genau der Punkt, an dem es abstrus zu werden begann? Aira treibt die Logik bis in die Absurdität, auf versiert unmerkliche Weise. Die streng geführten Sophismen zeitigen abwegige Ergebnisse, und das erinnert tatsächlich beglückend an Borges. Das Ergebnis seiner historischen Rekonstruktion könne übrigens einem Roman gleichkommen, einer „Erzählung von surrealem Anstrich“ – auch diese Ebene holt der Allwissende freimütig in seinen Bericht hinein. Surrealer Anstrich, in der Tat. Aber auch im komischen Detail ist der Übergang vom Skurrilen zum Surrealen kaum auszumachen: Das Surreale ist kein stabiler Code.

Eher skurril sind Chauffeure, die heimlich Lotterien veranstalten, wobei sie die Zahlen durch Wörter codieren; ist Varamos Hobby, Tiere einzubalsamieren, ohne darüber das Geringste zu wissen; sind so genannte Gleichmäßigkeitsrennen, bei denen der gewinnt, der am konstantesten eine bestimmte Geschwindigkeit hält.

Dass Varamos Mutter im Zorn „die geballte Faust von der Größe einer Haselnuss“ schwingt, gehört wohl in den Bereich des Übernatürlichen, oder dass ein Zimmer sich auszubreiten beginnt. Manches, das surreal erscheint, wird aber im Nachhinein erklärbar, etwa die unvergleichlich komische Szene, in der die winzige Fäuste schwingende Mutter plötzlich „ins Chinesische (Kantonesische)“ fällt, „eine Sprache, die Varamo nicht verstand“. Beiläufig wird später nachgereicht, sie sei chinesische Immigrantin. Immer wieder findet sich so die Lesererwartung aufs Erfrischendste enttäuscht. Wie entsteht nun aber das geniale Gedicht? Durch eine Kette von Fälschungen. Die erste ist das Falschgeld. Dadurch ist für Varamo alles aus dem Lot: vielleicht schon eine poetische Empfindung. Auf seinem zufallsgetriebenen Weg durch die Nacht gerät er an zwei Raubdruckverleger, die auch neue Talente suchen. Sie wollen ihn über den Tisch ziehen und bieten ihm 200 Pesos für ein Manuskript – zufällig genau die Falschgeldsumme.

Varamo, dem nichts ferner liegt, als ein Buch zu schreiben, beginnt so zu tun als ob. Weil er den literarischen Diskussionen der Raubverleger nicht folgen kann, behauptet er, ein Buch über das Einbalsamieren von kleinen Tieren schreiben zu wollen und macht zwei konkrete Titelvorschläge. Die räuberischen Verleger voller Kunstverstand sind begeistert und halten ihn für einen Avantgardisten. Der er wenig später auch wirklich sein wird! Er hat nämlich keineswegs vor, ein Sachbuch zu schreiben, lässt sich aber immer weiter von den Verlegern befeuern, die behaupten, Schreiben sei kinderleicht und gehe rasend schnell, in wenigen Stunden könne man ein ganzes Buch schreiben. So geschieht es. Varamo nimmt die Eindrücke des Abends und die Papiere aus seiner Hosentasche zusammen und schreibt den „Gesang des jungfräulichen Kindes“.

Aus mehreren Volten des Falschen also entsteht – zufällig? – das Gute und Schöne, das Meisterwerk. Eine Apotheose der Literatur, im Letzten? Oder die Satire ist total, „Der Gesang des jungfräulichen Kindes“ reiner Nonsens und die Literaturgeschichte darauf hereingefallen. Wie wäre das zu entscheiden? César Aira jedenfalls hat mit dieser „falschen“ Geschichte der Fälschungen ein glattweg begeisterndes Werk geschrieben, an Vielschichtigkeit und gescheiter Komik nicht zu überbieten, Borges in allem ebenbürtig.

César Aira: „Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo“. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Nagel & Kimche, München 2006, 120 Seiten, 14,90 €