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Archiv-Artikel

Der Song als Rolle

ANEIGNUNGEN Die Schauspielerin Barbara Sukowa hat zusammen mit dem Künstler Robert Longo in ihrer Wahlheimat New York ein Album mit Coverversionen und Rezitationen aufgenommen

Sie steht ganz außerhalb von Systemen und Gesellschaft in ihrer Mitternacht der Geschichte

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Elektronisches Wetterleuchten, Bässe, die am untersten Rand des Soundsturms entlangschrammen, leise wimmernde, digitale Geisterstimmen, doch dann – ein Mensch! „Mitternacht!“, schmettert Barbara Sukowa vorwurfsvoll in das nichts ahnende Dunkel der Szene. „Schrecken!“, ruft sie all denjenigen ergänzend zu, die das fortgesetzte Grummeln immer noch nicht deuten können. Schließlich: „Stille!“ – eher kontrafaktisch.

Doch was wie eine Tautologiebombe, gemischt aus einem frühen Einstürzende-Neubauten-Album und einem Gothic-Hörbuch für die Mittelstufe, beginnt, erholt sich, sobald die Sukowa mit dem Sprechtheater aufhört und zu singen beginnt. Ihre zweite ebenso ehrgeizige wie ausladende Revue („Devouring Time“) mit Liedgut und Dichtung beider Welten, von deutschem Barock (Andreas Gryphius) bis zu Südstaaten-Blues (Reverend Gary Davis), verknüpft europäische Klassiker (Shakespeare, Heine, Schumann) mit dem Great American Songbook und einem Lower-Manhattan-Klangbild aus der ewig fruchtbaren No-Wave-Tradition.

Der Song als Rolle – das hat Tradition. Mimen so unterschiedlicher Provenienz wie Leonard Nimoy oder Richard Harris, die Knef oder die Dietrich stellten sich der Aufgabe: Man singt nicht irgendwas, weil man’s gern tut oder gut kann oder man im Musical einen Hit damit hatte, sondern weil es im Song gerade für Schauspieler eine Gattung zu entdecken gab: den verkörperten, nicht nur den gesungenen Song (verhält sich zu Spielfilm wie Gedicht zu Roman).

Und auch für diejenigen, die von der musikalischen Seite des Songs kamen, war es zuweilen attraktiv, nicht einfach mal wieder ein paar fremde und eigene Nummern einzuspielen, sondern sich das Gefühl und die Wichtigkeit zu geben, eine klassische Aufgabe zu bewältigen, indem man so tut, als nähere man sich den Liedern von der Seite der darstellenden Kunst.

Ein immer noch maßgebliches Stadium in der Geschichte der Attitudes gegenüber dem Song, das merkt man auch hier wieder, war mit Nick Caves Mitte-80er-Album „Kicking Against The Pricks“ erreicht. Auch die X-Patsys, Barbara Sukowas Band, orientiert sich an der lakonischen Verstärkung des Songskeletts bei seltenen, aber wohl gesetzten kleinen, heftigen bis atonalen Gitarrenausbrüchen, die die Bad Seeds so beherrschten.

Barbara Sukowa kommt vom Schauspiel, und sie betrachtet daher ihr Material als Reihe von heterogenen reinen Scripts, die sie nun so mit Leben erfüllt, dass sich ein Zusammenhang ergibt. Historische Kontexte, berühmte Versionen spielen keine Rolle, das nur als Text überlieferte Barockgedicht und der vielfach eingespielte Popsong werden auf Äquidistanz gehalten. Anders als Popmusiker, die bei Coverversionen nicht an eine neutrale Vorlage, sondern an eine konkrete Aufnahme denken, der sie sich annähern, will Sukowa einen ganz neuen Zusammenhang herstellen: so eigen und textbezogen wie ahistorisch.

So sind Songs zusammengestellt, die sich vor allem thematisch die Hände reichen: Der „Gentle Moon“ folgt auf den „Blue Moon“, Kurt Weills „Lost In The Stars“ wird von Gryphius’ „An die Sterne“ anmoderiert, Willie Nelsons „Crazy“ und das durch die Countrysängerin Patsy Cline berühmt gewordene „Strange“ berühren sich über Bande. Das traditionelle „Schnitterlied“ folgt auf „Death Don’t Have No Mercy“ des blinden Reverend Gary Davis: Gerade das letzte Lied hat ja eine sehr spezielle Rezeptionsgeschichte.

Jorma Kaukonen und Jerry Garcia wollen von Davis das Gitarrespielen gelernt haben, und die Westcoast-Hippie-Kultur hat den Song geliebt. Hier vergisst man aber die Toten des Vietnamkriegs ebenso wie die Flutopfer von Mississippi-Überschwemmungen oder rassistischen Pogromen zugunsten einer zeitlosen Meditation über den Tod. Hier sollen über möglichst große kulturelle Distanzen mit den Stimmbändern der Diva anthropologische Konstanten verknotet werden.

Doch auf den zweiten Blick geht es noch um etwas anderes: Der Schnitter und der gnadenlose Death sind persönliche Tode, Todessubjekte, gegen die sich ebenso auch nur persönliche Empörung aufbringen lässt. In dieser Songzusammenstellung geht es um Einzelkämpfe. Das ist eine Idee, die das ganze Projekt durchzieht: Die nur über ihre Stimme verfügende, als Solitär gekennzeichnete Protagonistin hier, kann sich nur persönlich kloppen und konfrontieren, verzweifeln und in Melancholie versinken, kämpfen und klagen. Sie steht ganz außerhalb von Systemen und Gesellschaft in ihrer Mitternacht der Geschichte und kämpft mit Dämonen und Desastern, die notwendigerweise auch mehr oder weniger als Personen rüberkommen: ob nun als Schnitter, Mond oder Geliebter.

Dieses nicht ganz unkonservative Programm unterstützt eine Band, The X-Patsys, die denkbar gut geeignet ist, dem Solotheater ihrer Stimme eine ebenso glänzende wie todseriöse Bühne zu bauen. Anders als andere Songschauspieler hat sich die Sukowa kein All-Star-Ensemble für ihre Songs aller Zeiten zusammengecastet, sondern lässt sich von einer Spät-No-Wave-Truppe begleiten. Drummer Anton Fier (bei allem dabei gewesen von den Feelies und Pere Ubu bis zu den Golden Palominos und den Lounge Lizards) und Keyboarder Anthony Coleman, der mit Fier die Nähe zur John-Zorn-Downtown-Welt teilt, treffen auf die Gitarristen und bildenden Künstler John Kessler und Roberto Longo, dem Ehemann von Barbara Sukowa, einem breiteren Publikum für seine Musikvideos etwa für New Order bekannt. Auch der in Spätphasen von New-Wave-Bands (Psychedelic Furs, Siouxsie & the Banshees) vielfältig eingesetzte Knox Chandler verstärkt den Eindruck, dass die Menschheit dem hier angestrebten, individuell todesnahen Jenseits der Geschichte wohl niemals so nahe war wie in den 80er-Jahren.

Barbara Sukowa hat keine einschüchternde Angeberstimme. Ihr Gesang ist für die emotionalen Ritte und Stürze, die sie aufführen will, in seiner angreifbaren Beweglichkeit ideal. Was ihr Projekt leider zuweilen untergräbt, sind die Poesie-Performances, exaltiert peinliche Spoken-Word-Schlachten, die vergessen, dass in der Popmusik auch das Gespielte stärker der Person zugerechnet wird, weniger der Rolle. Das ergibt andere Schamverhältnisse, Distanz und Coolness-Ordnungen, von deren Berücksichtigung ja der Rest des Projektes enorm profitiert.

■ Barbara Sukowa and The X-Patsys: „Devouring Time“ (Winter&Winter), live am 27. 3. in Wolfsburg, Piazza