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Archiv-Artikel

Deutsche Schrate

MISSBRAUCH Die Reformpädagogik muss sich einer radikalen Kritik ihrer Quellen unterziehen. Hauptproblem bleiben aber die verkrusteten Regelschulen

Christian Füller

■ 46, ist Redakteur der taz und Autor. Gerade erschien von ihm das Buch „Ausweg Privatschulen?“ (edition Körber-Stiftung), in dem er unter anderem das Kolleg St. Blasien und die Odenwaldschule porträtiert.

Kein Tag ohne neue Enthüllung. Mit ekelhaften Details wird uns allen vor Augen geführt, wie Pater und Pädagogen ihre Macht über Schüler ausnutzen. Wir müssen den Opfern genau zuhören, um zu verstehen, was es möglich gemacht hat, dass jemand Schutzbefohlene zum Objekt sexueller Interessen degradiert. Das ist schmerzhaft. Aber wenn die Fälle zu irgendetwas nutze gewesen sein sollten, dann dazu: Die heute 40- bis 60-jährigen Missbrauchten können uns Hinweise geben, wie man Kinder und Jugendliche heute davor schützen kann, von ihren Lehrern vergewaltigt zu werden.

Der zweite Blick muss sich auf das Datum des Missbrauchs richten, über den wir debattieren: 1970ff. Wir schreiben 2010. Wer sich von den Fällen in Berlin, St. Blasien und Ober-Hambach zu sehr fesseln lässt, wird leicht übersehen, dass es sich beim Kolleg St. Blasien und der Odenwaldschule heute um ganz andere Einrichtungen handelt. Zeiten ändern sich.

St. Blasien ist kein weltabgewandtes Kloster im Hotzenwald mit folterkammerähnlichen Verliesen. Es ist nicht mal mehr ein reines Internat, sondern ein öffentliches Gymnasium, das 580 SchülerInnen besuchen, die meisten von ihnen halbtags. Und das Landerziehungsheim Odenwaldschule ist kein Bootcamp für Päderasten, wo der böse Geist des pädophilen Gustav Wynekens spukt. Nein, in der heutigen Odenwaldschule leben junge Lehrer mit eigenen kleinen Kindern, Lehrer, die nicht wenig genervt sind von dem anstrengenden Lehrer- und Erzieherjob, den der Gründer und Knickerbockerträger Paul Geheeb ihnen beschert hat. Beide Schulen sind dem herkömmlichen staatlichen Schulwesen übrigens weit voraus.

Zeiten ändern sich

Im Odenwald wurde vor 100 Jahren das liberalste der Landerziehungsheime gegründet. In den Häusern am Waldhang leben nicht nur schnöselige reiche Kinder, deren Eltern sich 26.000 Euro Schulgeld im Jahr leisten können. Dort sind viele arme Kinder zu Hause. Schüler, die vor Vernachlässigung und Verwahrlosung in Sicherheit gebracht werden, die sie bei ihren überforderten Eltern erleiden.

Das ist die eigentliche Tragödie der Debatte um die Odenwaldschule: Während die halbe Nation auf die Schandtaten eines im Sterben liegenden Reform-Pädophilen in Berlin starrt, werden deutsche Jugendämter den Odenwald nicht mehr als sicheren Hafen für vernachlässigte Kinder anwählen. In der Unterstufe der Odenwaldschule haben zehn von 14 Kindern einen diagnostizierten Förderbedarf. Es gibt nur eine Handvoll Schulen in Deutschland, die mit solchen Kindern überhaupt arbeiten können. Die Lehrer im Odenwald können es ganz sicher.

Das ist kein Plädoyer, die Reformpädagogik zu entlasten. Die Missbrauchskrise wird in einer Revision dieses sehr deutschen Zweigs der Pädagogik münden. Das ist gut so, denn manche Vorstellungen der Reformpädagogen sind versponnen, ja abwegig und inakzeptabel. Rudolf Steiner war judenfeindlich und esoterisch, Hermann Lietz nationalkonservativ und antisemitisch, Peter Petersen antisemitisch und unwillig, sich von den Nazis fernzuhalten.

Bayern und die Prügelstrafe

Wie kam man dann überhaupt auf die Idee, sich auf diese Sonderlinge zu berufen? Dazu muss man sich vor Augen führen, wie brutal deutsche Schulen waren, ehe Reformpädagogen wie Ellen Key eine Pädagogik vom Kinde aus dachten. Schulen waren Prügel- und Zwangsanstalten. Schüler wurden gehalten wie Hühner in Massenverschlägen, Wissen wurde mit Gewalt verabreicht. Noch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führte Bayern die Prügelstrafe wieder ein. Nur so ist verstehbar, warum nicht wenige Deutsche sich und ihre Kinder in teils versponnene Schulkonzepte flüchteten. Allerdings: In ihnen stand erstmals nicht die Institution, sondern das Individuum im Mittelpunkt. Das war ein fundamentaler pädagogischer Perspektivwechsel – und allein er macht die Stärke der Reformpädagogik aus.

Wer von der Theorie der Reformpädagogik des 19. Jahrhunderts aus ein Urteil über die Praxis heutiger Alternativschulen fällt, sollte daher acht geben. Viele Abrechnungen dieser Tage übersehen, dass moderne Reformschulen wie etwa die Schulpreisträgerschulen ihren Lernplan nicht nach dem wirren Skript der Reformpädagogen schreiben. Knabenliebe, Pardon, steht dort nicht auf dem Stundenplan. Es gibt überhaupt keinen Stundenplan mehr, weil eben nicht Fächer, sondern Kinder unterrichtet werden. Die modernen Schulen gründen ihre pädagogische Vorstellung auf der Kreativität und Selbstbestimmtheit des einzelnen Kindes. Sie sehen Kinder als die Quellen neuen Wissens. Vorbild dieser Reformschulen sind Arbeits- und Erkenntnisprozesse des 3. Jahrtausends – aber nicht Waldschrate, die ihren Hosenstall nicht zubekommen.

Macht abgeben jetzt

Die Lehrer von Reformschulen müssen im Umgang mit Kindern entschieden an Macht und Direktivgewalt abgeben

Die Lehrer von Reformschulen müssen im Umgang mit Kindern entscheidend an Macht und Direktivgewalt abgeben. Sie werden Lernbegleiter. Daher ist es auch ein pädagogisches Verbrechen, was Gerold Becker im Odenwald getan hat. Er hat sich im Gewande des verständnisvollen Lehrers und Freundes seinen Schülern auf Augenhöhe genähert – um ihr Abhängigkeitsverhältnis sexuell auszunutzen, nun wieder als ihr Chef. (Und es ist nicht zu fassen, dass der bedeutendste deutsche Pädagoge der Nachkriegszeit, Hartmut von Hentig, dieses Schema „seines Freundes“ nicht etwa entlarvt, sondern bagatellisiert und wegzureden versucht.)

Dennoch ist die Post-Becker-Debatte um die Reformpädagogik auch absurd. Denn das pädagogische Problem der Bundesrepublik sind nicht die Handvoll Reformschulen. Es ist die Mehrheit der 30.000 staatlichen Schulen. Sie prügeln zwar nicht mehr – aber den Paradigmenwechsel von der Institution zum Kind haben sie nicht mitbekommen, geschweige denn vollzogen. Sie entlassen jeden fünften Schüler ohne Leseverständnis, sie arbeiten mit frontalen Lehrmethoden, die geradezu prähistorisch sind. Und sie zeigen sich als reformresistent. Das heißt, wir brauchen zugleich eine radikale Kritik der alten Reformpädagogik – und dringend eine neue Reformpädagogik, um verkrustete Schulen für das 21. Jahrhundert fit zu machen.

CHRISTIAN FÜLLER