: Der Zeit entrückt
MAGISCHER REALISMUS Andréa del Fuegos „Geschwister des Wassers“ erzählt von einer zersprengten Familie in einem archaischen Brasilien
An dem neunjährigen Nico fallen diese glänzend hellblauen Augen auf, der sechs Jahre alte Antônio ist etwas zu klein geraten, und die vierjährige Júlia wirkt noch immer wie ein rundes Baby. Die Kinder der Malaquias stehen um einen Brunnen und freuen sich an der Spiegelung ihrer Hände im Grundwasser. Sie sind glücklich. Aber in der Nacht verändert sich das Leben der Geschwister schlagartig. Der Blitz schlägt ein, die Eltern sterben. Die Kinder überleben, werden auseinandergerissen und müssen sich allein in einer Welt zurechtfinden, die man dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zuordnen kann. So ganz genau weiß man das aber nicht, geht es Andréa del Fuego doch um ein archaisches, der Zeit entrücktes Brasilien.
Bislang hat die 38-jährige, in São Paulo lebende Journalistin, Filmproduzentin und Autorin Kurzgeschichten geschrieben. „Geschwister des Wassers“ ist ihr erster Roman, erschien in Brasilien unter dem Titel „Os Malaquias“ und wurde mit dem José-Saramago-Preis ausgezeichnet. Man lernt eine zurückhaltende Vertreterin des magischen Realismus kennen, die mit ihren um Millimeter aus dem realen Geschehen verrückten Bildwelten mehr in Richtung realistischer Lebenszusammenhänge als in das Reich des Magischen zielt.
Plötzlich schwarze Augen
Nico etwa, der älteste der Geschwister, wächst auf der Fazenda des lokalen Großgrundbesitzers auf, ist das beste „Arbeitspferd“ des Farmers und erhält die Erlaubnis, mit Maria einen eigenen Hausstand im verwaisten Elternhaus zu gründen. Eines Tages verschwindet er, taucht irgendwann wieder auf und hat plötzlich schwarze Augen. Ob er unterwegs dem Teufel begegnet ist oder etwas Schmerzliches erlebt hat, erfährt man nicht.
Andréa del Fuego verleiht surrealen Erzählmomenten die Aura eines physikalischen Faktums. Das mit den schwarzen Augen ist einfach so, und es ist diese beiläufige Selbstverständlichkeit, die die Lektüre ihres Romanerstlings so fesselnd macht, auch wenn man kein begeisterter Anhänger der magisch-realen Schreibschule ist. Sie tippt lokale Schattierungen und individuelle Konflikte nur an, dampft Erzählfäden atmosphärisch ein. Übrig bleibt, worum es im Kern geht: das starke Band der Geschwisterbeziehung, das die drei Waisen auch über große Distanzen hinweg zusammenzuhalten scheint.
Jeder von ihnen knüpft Wahlverwandtschaften und hat schon mal Glück. Antônio und Júlia geht es in einem von französischen Nonnen geleiteten Waisenhaus ganz gut. Das Schicksal belässt es aber nicht bei dem einen Blitzschlag. Júlia wird von einer reichen arabischen Dame adoptiert und führt ein Aschenputteldasein. Und bei Antônio stellt sich heraus, dass er kleinwüchsig ist. Das sichert ihm die Liebe der Nonnen. Ob das auch so wäre, wenn sie wüssten, wie sehr er der Unterwäsche in ihren Truhen zugetan ist, lässt del Fuego offen.
Nico holt den jüngeren Bruder zu seiner Hochzeit zurück ins heimatliche Tal; der bleibt bei der Familie des Bruders und wird Hüter der Zwillinge, die Maria kurz nach der Hochzeit zur Welt bringt. Die Schwester der beiden will zur Hochzeit reisen und entflieht dem Haushalt der strengen Araberin, bleibt aber im Bahnhof eines Provinzstädtchens hängen. Júlia ist die fliegende Holländerin der zersprengten Familie und gelangt gegen Ende in die Hafenstadt, in der Nico mit seiner Familie und dem Bruder in ein neues Leben aufbricht. Die Schwester und die Brüder sind sich ganz nahe, erkennen sich aber nicht. Mit Familienbanden ist es wie mit einem elektromagnetischen Feld: Es kann Elemente zusammenführen, sie können sich aber auch verfehlen.
Andréa del Fuego taucht mit „Geschwister des Wassers“ in die eigene Familiengeschichte und die Gefilde ihrer Vorfahren ein, den brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Sie stehe dem magischen Realismus eher distanziert gegenüber, meint del Fuego in einem Gespräch. Sie habe das Manuskript immer gekürzt, wenn für ihren Geschmack zu viel Magie ins Spiel kam. Dank Marianne Gareis’ exzellenter Übersetzung kann man sich nun davon überzeugen, wie gut das gelungen ist. JÜRGEN BERGER
■ Andréa del Fuego: „Geschwister des Wassers“. A. d. Portugiesischen v. M. Gareis. Hanser Verlag, München 2013, 208 S., 17,90 Euro