: „In Deutschland ist Politik Verwaltung“
GESPRÄCH Der Schweizer Regisseur Milo Rau über politisches Theater und die Theatralität von Politik
■ Jahrgang 1977, ist ein Schweizer Theaterregisseur. In „Moskauer Prozesse“ nahm er den Prozess gegen die russische Punk-Band Pussy Riot auf. Im Herbst erscheint: „Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft“
INTERVIEW SONJA VOGEL
taz: Herr Rau, Sie bringen politische Prozesse auf die Theaterbühne. Ist ihre Kunst politisch?
Milo Rau: Sie hat politische Auswirkungen. Ich versuche eine Moral der Kunst zu üben. Ich habe als Organisator von Großdemonstrationen begonnen zu inszenieren und mich im Sinne einer sozialen Plastik gefragt, wo geht der Demonstrationszug entlang, wer spricht wann. Das war mein Einstieg in die Kunst.
Ihre Inszenierungen erwecken den Eindruck, als wollten Sie gesellschaftlichen Konflikten einen Raum geben, den es in der politischen Sphäre nicht gibt.
In meinen Prozessformaten lasse ich Konflikte auf der Bühne ausbrechen. In Russland zum Beispiel ist das Problem der Künstler, die zensiert werden und unter Druck geraten, ja ein juristisches und ein polizeiliches. Indem ich dies ins Theater überführte, kann ich Dinge zur Sprache bringen, die vom juristischen Diskurs ausgeschlossen sind. Die Pussy-Riot-Prozesse habe ich nicht re-inszeniert, sondern mit den Beteiligten noch einmal aufgeführt. So konnten sie in einem politischen Raum agieren, was ihnen zuvor verwehrt worden war.
Sie geben Marginalisierten die Möglichkeit, aktiv zu werden?
Es ist die Ermöglichung von Politik, während Politik oft gar nicht möglich ist in einem normalen gesellschaftlichen Rahmen. Darum hat Theater diese emotionale Wirkung, es erschafft einen Raum, in dem Politik möglich wird.
Politik ist Inszenierung?
Die Art, wie Politik versucht, sich medial zu vermitteln, unterscheidet sich stark davon, wie Politik in Echtzeit läuft. Diese Bruchstellen interessieren mich.
Wenn Kunst diese Räume eröffnet, was kann dann Politik?
Ein Problem der Politik ist die Personalisierung. Dieser Authentizitätswahn. Ein Politiker hat irgendeine Affäre, ein Politiker hat plagiiert … Es ist aber nicht möglich, keine Affären zu haben. Trotzdem wird das immens aufgeplustert. Es ist doch ein Unterschied, ob man als Politiker eine ethische Haltung fordert oder ob man selber ethisch handelt.
In Deutschland scheint diese Unterscheidung schwerzufallen.
In der Schweiz hat man die Figur des Citoyen, der sich vom Privatmann unterscheidet. In Deutschland ist das wenig entwickelt. In Frankreich kann der Präsident herumvögeln und amoralisch sein, aber am Abend eine moralische Rede halten, die politisch gemeint ist. Das stört niemanden. In Deutschland ist das nicht möglich: Wer nicht korrekt handelt, wird fertiggemacht. Ich habe im Theater den Schmutz jeder Gesellschaft hervorgeholt: in Russland die Unterdrückung der Künste, in der Schweiz die rechtsradikalen Medien …
… und in Deutschland?
Da habe ich kein Thema gefunden. Die deutsche Gesellschaft hat einen Selbstreinigungsmechanismus, der extreme Positionen verunmöglicht. In den letzten 50 Jahren haben nur die RAF und der NSU das Land erschüttert. Für einen politischen Theatermacher gibt es da wenige Themen. Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden, die Politik abzuschaffen. Politik ist in Deutschland Verwaltung. In der Schweiz hat alle zwei Monate eine Abstimmung, die gegen das Völkerrecht verstößt, eine Mehrheit. Wenn sich in Deutschland fünf Mitglieder der NPD treffen, dann heulen alle auf. Das ist gut so. Aber es verhindert das Aufsprießen der Blumen des Bösen, die ich pflücken könnte.
Andererseits blieb der NSU unentdeckt, weil man nicht glaubte und auch nicht glauben wollte, dass es einen rechtsradikalen Untergrund geben könnte.
Ich will auch nicht sagen, dass die Deutschen besser sind. Sie sind nicht immun. Es ist alles noch vorhanden, aber eben nicht in der politischen Sphäre. Man hätte auch dort eine Mehrheit für völkerrechtswidrige Gesetze, aber nicht für Demagogen wie Blocher. Das macht die politische Sphäre schon uninteressanter. Aber natürlich sind die Deutschen Arschlöcher wie alle anderen.