: Lust am Krawall
In der aktuellen Schuldebatte schlägt mal wieder die Stunde der großen Vereinfacher: Sie machen „Multikulti-Träumer“ für die integrationspolitischen Fehler verantwortlich
Seit die Lehrer der Rütli-Hauptschule im Berlin-Neukölln vor ihren Schülern kapituliert haben, machen täglich neue Hiobsbotschaften von den sozialen Brennpunkten der Republik die Runde. Und wieder schlägt die Stunde der groben Vereinfacher: In einem Zeitungsessay stellte Volker Kauder, Vorsitzender der Unionsfraktion, fest, „wie sehr sich die Realität gerade in Großstädten von der naiven Vorstellung multikultureller Straßenfestromantik entfernt hat, die für eine bestimmte politische Richtung in Deutschland lange prägend war“. Edmund Stoiber sekundierte, die „blauäugige Multikulti-Gesellschaft“ sei „komplett gescheitert“. Und Friedbert Pflüger, Spitzenkandidat der CDU bei der kommenden Wahl in Berlin, forderte den Abschied von der „Staatsreligion Multikulti“.
Kauder, Stoiber und Pflüger fassen das konservative Credo zusammen, das schon hundertfach in Zeitungen wie der Welt, dem Spiegel, der FAZ und auch in der taz ventiliert wurde. Sie stützen sich dabei gerne auf die Thesen der Publizistin Necla Kelek, die behauptet, in den zurückliegenden Jahrzehnten habe es kaum eine Auseinandersetzung mit dem Ehrbegriff türkischer Männer, Zwangsehen oder der Gewalt in muslimischen Familien gegeben. Schuld daran sei die Tabuisierung dieser Themen durch „Linke und Multikulturalisten“, die den Einwanderern keinerlei Integrationsleistungen abverlangt hätten und damit die Verantwortung für die beklagten Missstände trügen.
Kelek sagt lediglich laut und öffentlich, was an bildungsbürgerlichen Stammtischen und anderen Zirkeln seit geraumer Zeit gedacht, aber in der Vergangenheit nur mit Vorsicht und Zurückhaltung debattiert wurde. Sie adelt verbreitete Ressentiments mit scheinbarer Legitimation, da ihr aufgrund ihrer türkischen Herkunft ein hohes Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit zugesprochen wird.
Einer Prüfung halten ihre Thesen trotzdem nicht stand. Wann beherrschte denn, wie oft beklagt, eine Orthodoxie des Multikulturalismus die Integrationspolitik? Wann haben denn „Linke und Multikulturalisten“ in den letzten fünfzig Jahren, seit dem Beginn der Einwanderung in die Bundesrepublik im Jahre 1955, die Regierungsverantwortung im Bund und in den Ländern innegehabt? Neben den Jahren der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005, die im Vergleich zur Ära Helmut Kohl einen Fortschritt in der Integrationspolitik bedeutete, war das lediglich an einzelnen Orten wie Frankfurt am Main der Fall.
Dort wurde mit der ersten rot-grünen Koalition auch das Amt für Multikulturelle Angelegenheiten gegründet, um sich unter der Federführung Daniel Cohn-Bendits den Herausforderungen zu stellen. Gemeinsam mit Thomas Schmid, heute Politikchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hatte er bereits 1992 die programmatische Schrift „Heimat Babylon“ verfasst und schon in der Einleitung klargestellt: „Wer die Probleme und Konflikte leugnet, die Einwanderung notwendigerweise schafft, dementiert die Wirklichkeit. Gelöst werden können solche Probleme und Konflikte aber nur dann, wenn sie zuvor benannt werden. Und genau das werden wir tun.“ Eine vergleichbare Streitschrift aus den Denkfabriken der Konservativen liegt bis heute nicht vor. Die eigene Gedankenarmut mag ihre überbordende Begeisterung für Necla Kelek erklären.
Dabei waren Cohn-Bendit und Schmid keineswegs die Einzigen oder Ersten, die sich den Problemen widmeten. Autoren wie Werner Schiffauer („Die Gewalt der Ehre“, 1983), Saliha Scheinhardt („Frauen, die sterben, bevor sie gelebt haben“, 1983), Kristina Kehl und Ingrid Pfluger („Die Ehre in der türkischen Kultur“, 1988), Claus Leggewie („Multi Kulti“ 1990), Metin Gür („Türkisch-islamische Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland“, 1993), Wilhelm Heitmeyer („Verlockender Fundamentalismus“, 1997) sowie Christian Pfeiffer mit seinen diversen kriminologischen Studien, um nur einige zu nennen, haben sich seit Beginn der Achtzigerjahre intensiv und anhaltend mit den Folgen und Verwerfungen muslimisch-patriarchalischer Traditionen, dem Islamismus und religiös-nationalkonservativen Strömungen auseinander gesetzt. Hinzu kommen Filmemacher wie Tevfik Baser („40 Quadratmeter Deutschland“), Hark Bohm („Yasemin“) oder Fatih Akin („Gegen die Wand“), die sich der Kritik an muslimisch-patriarchalen Strukturen widmeten.
Diese kleine Aufstellung sollte genügen, um den Vorwurf zu entkräften, die Linke oder die Multikulti-Szene hätte drängende Probleme der Integration tabuisiert. Dieser grobe Unfug ist ein ideologisches Konstrukt, das nur über die Leerstellen der Konservativen und Bürgerlichen im migrationspolitischen Diskurs hinwegtäuschen soll. Es ist deshalb an der Zeit, dass diese lautstarken Kritiker des „naiven Multikulturalismus“ einmal in sich gehen und sich selbst dazu befragen, was ihre eigenen Positionen zu den genannten Themen waren und wie viel an Wegschauen sie sich erlaubt haben.
Am Beispiel der Rütli-Hauptschule in Berlin Neukölln mit ihren vielen arabischen Jugendlichen ist die Ignoranz der politischen Mitte schnell erzählt. Seit fünfzehn Jahren haben Sozialarbeiter, Sozialwissenschaftler, Journalisten und GEW-Vertreter vor den Problemen vor allem mit den palästinensischen und libanesischen Familien Neuköllns gewarnt. Die Großeltern und Eltern der Kinder der Rütli-Hauptschule kamen in den Achtzigerjahren als Bürgerkriegsflüchtlinge nach Berlin. Sie erhielten keinen sicheren Aufenthaltsstatus, sondern stets auf wenige Monate befristete Duldungen, die ihnen die Aufnahme von Arbeit verwehrten. Die Familien wurden auf Dauer in ein System reduzierter Sozialhilfe gezwungen und hatten nur selten die Möglichkeit, ihr Leben durch eigene Arbeit zu finanzieren. Integrations- oder gar Deutschkurse gab es nicht, und die Schulpflicht für ihre Kinder wurde erst Anfang der Neunzigerjahre durch den rot-grünen Senat verfügt. Dieses Leben im Transit währte 10, 15 oder gar mehr als 20 Jahre.
Das Ergebnis dieser Politik sind zerrüttete Familien, die von Analphabetismus geprägt sind, und Überlebensstrategien, die nicht immer mit bürgerlichen Wertvorstellungen übereinstimmen. Wer nun in kulturkämpferischer Pose über diese Jugendlichen herfällt und meint, sie seien ein weiterer Beweis mangelnden Integrationswillens von Muslimen, ist nicht nur zynisch, sondern zeigt: Das Interesse ist nicht Erkenntnisgewinn, sondern die schiere Lust auf Krawall.
Dabei gibt es auch Gegenstrategien: In Städten wie Berlin, Frankfurt und andernorts haben Sozialarbeiter, Multikulturalisten und Gewerkschafter seit den frühen Achtzigerjahren Konzepte, Projekte und Hilfsangebote erarbeitet, die arabischen und türkischen Jungs Alternativen zum tradierten Rollenverhalten erschließen oder das Empowerment muslimischer Mädchen für ein selbstbestimmtes Leben zum Ziel haben. Wer dies nicht glauben mag, der kann sich zum Beispiel mit der Regionalstelle für Ausländerangelegenheiten (RAA) in Essen in Verbindung setzen. EBERHARD SEIDEL