: Nicht jeder Politiker kann lesen
AUS KABUL ADRIENNE WOLTERSDORF
Die Darul-Aman-Straße sollte schon vor hundert Jahren in ein unabhängiges, modernes Afghanistan führen. 1919, nach dem letzten britisch-afghanischen Krieg, ließ König Amanullah daher einen neuen Stadtteil errichten. Nicht weit von seinem eleganten Palast und den umliegenden Parks entfernt sollte ein unabhängiger Staatsrat tagen.
Heute, zahlreiche Regierungen, Warlords und Bürgerkriege später, führt die Darul-Aman-Straße in ein staubiges Nichts. Wie ein Gespenst erhebt sich die ausgebrannte und von Stacheldraht umgebene Ruine des Königspalasts. Auf halber Strecke dorthin tagen seit Dezember vergangenen Jahres erstmals wieder Abgeordnete – in dem von Grund auf restaurierten Gebäude des einstigen Parlaments. Nach drei Jahrzehnten Krieg erlebt Afghanistan endlich wieder so etwas wie Frieden.
Die Jeeps einzelner Abgeordneter parken auf einer lehmigen Brachfläche gegenüber dem Parlament. Dort sichern seit einigen Tagen bewaffnete Schutzmänner die Zufahrt zur neuen afghanischen Volksvertretung. UN-Berater hatten die Parlamentarier wiederholt ermahnt, mehr für ihre Sicherheit zu tun. In kleinen Gruppen warten Männer an der Straße im Staub der vorbeifahrenden Busse und Autos. Sie hoffen auf Einlass oder auf Abgeordnete, denen sie ihre Anliegen vortragen können.
Plötzlich fahren an diesem Aprilmorgen vier schwarze Jeeps ohne Nummernschilder vor. Ein Dutzend bewaffneter Bodyguards in Armeecamouflage springt heraus und öffnen einem älteren Mann in traditioneller afghanischer Kleidung die Wagentür. „Das ist einer der Warlords, die jetzt im Parlament sitzen. Nur die können es sich erlauben, ohne Nummernschilder herumzufahren“, raunen einige Wartende. Ohne hochzuschauen, verschwindet der Abgeordnete im ockerfarbenen Bau des afghanischen Parlaments.
Es ist Mittwoch und einer von drei wöchentlichen Sitzungstagen im neuen afghanischen Parlament. Das Unterhaus, die Wolosi Jirga, will darüber beraten, wie sie mit der neuen Kabinettsliste von Präsident Hamid Karsai verfahren soll. Karsai, der seit 2001 regiert, hat eine Reihe von Leuten ausgetauscht, darunter seinen Außenminister. Ihn will er nun durch einen Mann ersetzen, der lange Zeit im Aachener Exil lebte. Die Liste ist unter den Abgeordneten umstritten. Dem Parlamentspräsidenten Junis Khanouni missfällt vor allem, dass nur noch eine einzige Frau mit von der Partie sein soll.
Die Mienen einiger Abgeordneter, die auf dem mit dickem Teppich ausgelegten Gang zum Plenarsaal herumstehen, sind angespannt. Es ist die erste wichtige Entscheidung, die die 249-köpfige Versammlung treffen muss. Alles ist neu. Alle sind nach mehr als drei Jahrzehnten Ausnahmezustand und Gewalt unsicher, was das ist, ein Parlament. Die, die hier nun miteinander diskutieren sollen, haben bis vor wenigen Jahren noch gegeneinander Krieg geführt.
„Niemand hat Erfahrung mit Demokratie“ sagt Fersullah Zefer in fließendem Englisch. Er trägt einen westlichen Anzug mit Krawatte und ist der Vorsitzende des „Ausschusses für Umwelt und Bodenschätze“. Nachdem das Parlament an diesem Vormittag dann doch mehr über den christlichen Konvertiten Abdur Rahman debattiert als über das Prozedere der Ministerernennung, steht am Nachmittag wieder Fortbildung auf dem Programm. Die Ausschüsse haben sich in Zimmer und Ecken des Parlamentsgebäudes zurückgezogen. Eigene Konferenzräume haben sie noch nicht.
Zefer sitzt mit den Ausschussmitgliedern in der noch fast leeren Parlamentsbibliothek an einem Lesetisch. Den sechs Ausschusskollegen, darunter eine Frau, liest er in monotoner Stimme die präsidialen Dekrete zum Schutz von Afghanistans reichhaltigen Bodenschätzen vor. Wer etwas nicht versteht, soll die Hand heben, doch alle blicken versunken vor sich hin.
„Vor Wochen habe ich ihnen die Verfassung vorgelesen, damit sie sie kennen lernen,“ erklärt Zefer, ein Rechtsanwalt, der im Exil gelebt hat. Dann habe man sich das Prozedere der Ausschussarbeit vorgenommen, jetzt behandelt er die neue Umweltgesetzgebung. „Nicht jedes unserer zehn Ausschussmitglieder kann lesen und schreiben. Dabei haben wir hier noch mit das höchste Ausbildungsniveau, sieben von uns haben eine höhere Bildung“, sagt Fersullah Zefer mit einem Anflug von Stolz.
Die Texte, die er vorlese, seien die präsidentiellen Dekrete. Demnächst wird sein Ausschuss dem Parlament seine Empfehlungen vorlegen müssen, ob die Dekrete zu verabschieden sind oder ans Präsidialamt zurückgegeben werden sollten.
Während Zefer weiterliest, wird im Vorraum der Bibliothek eine Palette mit Bücherkisten abgestellt. In den Kisten sind 1.500 Bände, ein Geschenk der iranischen Botschaft in Kabul. Die Iraner sind spendabel. Nur wenige Kilometer vom Parlament entfernt errichten sie gerade eine islamische Universität.
„Geben Sie uns noch zwei, drei Monate Zeit“, meint Zefer und blickt zu den frisch angekommenen Kartons und den Angestellten, die sie auspacken. Noch wolle man nicht mit Journalisten sprechen, die Abgeordneten seien ja gerade dabei, sich Wissen über das Funktionieren des Parlaments zu erarbeiten. Der Abgeordnete neben ihm trägt eine paschtunische Filzkappe und ein traditionelles Habit mit knielangem Hemd und kommt aus der Provinz Badakhshan. Sultan Ewang ist frustriert. „Ich bin in allen Sitzungen, aber nie wurde ich im nationalen Fernsehen gezeigt. Jetzt glauben meine Wähler zu Hause, ich würde die Versammlungen schwänzen.“
Nach dem Umgang der Medien mit den Politikern befragt, zeigt er sich sehr unzufrieden. „Die Abgeordneten aus Kabul werden eindeutig mehr im Fernsehen gezeigt“, beschwert sich Ewang. Das staatliche National-TV sei gar nicht national, sondern berichte nur einseitig von Ereignissen in Kabul, und dies ausschließlich in Dari, der Kabuler und westafghanischen Sprache, außerdem bevorzuge es die Ethnie der Hasara.
„Die Medien konzentrieren sich auf das Negative, statt zu berichten, was alles schon gemacht wurde“, stimmen ihm seine Kollegen bei und klingen schon wie alte Hasen aus dem Westen. Zefer beeilt sich einzugreifen. „Es fehlt noch die Vertrauensbasis zwischen den Politikern und den Medien“, sagt er erklärend, „die Journalisten fassen vom Parlament an der Regierung geübte Kritik als feindlich auf.“
Shakiba Hashmi, einzige Frau im Ausschuss und Abgeordnete aus der südlichen Provinz Kandahar, erlebt andere Enttäuschungen. Sie wurde bekannt, als sie den Fall des Mannes aus ihrer Provinz aufbrachte, der vom amerikanischen Militär im US-Lager in Bagram gefoltert worden sein soll. Hashmi, eine junge Frau mit mehr als fünf Jahren Schulausbildung, stört eher der Umgang einiger Abgeordneter mit den Frauen im Parlament. „Wir sitzen neuerdings in alphabetischer Reihenfolge. Aber einige der Männer, neben denen wir Frauen sitzen, weigern sich, uns zur Begrüßung die Hand zu geben. Sie sagen, Frauen gehörten ins Haus und nicht in die Politik.“
Auch die rund 160 akkreditierten Parlamentskorrespondenten müssen lernen, wie die Demokratie funktioniert. Vergangene Woche gab es für sie ein erstes Einführungsseminar, organisiert von den Vereinten Nationen. Deren Mitarbeiter sind noch dabei, ein Handbuch des afghanischen Parlamentarismus zu erarbeiten, die englische Version steht schon, nun muss noch alles in die Landessprachen übersetzt werden. Ein Journalist, Zulmai Ahadi, will wissen, was er tun soll, wenn die Abgeordneten vor ihm davonlaufen.
Kurz vor 17 Uhr muss der Ausschuss für Umweltpolitik die Bibliothek räumen. Misses Date, wie sie von allen respektvoll genannt wird, legt Aufgabenzettel auf die Tische. Gleich werden an die zwanzig Abgeordnete zum Grundkurs Englisch kommen. „Das ist Teil unseres capacity buildings“, sagt der Abgeordnete Mahmud Rachid aus der Provinz Parwan. UN-Englisch beherrschen hier bereits alle. Er selbst hat einst einen Uniabschluss in Islamischen Studien gemacht und war lange Zeit Dekan der Islamischen Fakultät der Kabuler Universität. Jetzt büffelt er den Umgang mit Computern, Englisch und das Einmaleins des Parlamentarismus. Gerade ist er mit anderen Abgeordneten von einem Seminar in Dubai zurückgekehrt, wo er etwas „über Globalisierung“ gelernt hat.
Einige Tage warten die Kandidaten für die Ministerposten auf dem Gang vor den verschlossenen Türen des Plenarsaals. Drinnen brandet gerade wieder eine heftige Debatte auf: Soll sich das Parlament erheben, wenn die Nominierten einmarschieren? „Nein, wir stehen nicht auf“, sind sich zunächst fast alle einig, viele sprechen einfach drauflos. Khanouni, der Parlamentspräsident, kämpft um die Disziplin. Schließlich meldet sich ein älterer Abgeordneter und sagt: „Wir machen uns doch nicht kleiner, wenn wir aufstehen. Das würden wir doch für jeden Gast tun, der in unser Haus kommt.“ „Ja, ja“ rufen wieder alle durcheinander. Dann erheben sie sich.