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Archiv-Artikel

„Die Wahrheit vom eigenen Scheitern“

THEATER Regisseur Sascha Hawemann inszeniert in Hannover Tschechows „Drei Schwestern“. Er möchte zeigen, wie Tschechows Figuren sich an ihren Lebensentwürfen abarbeiten

Sascha Hawemann

■ Jahrgang 1967, wuchs in der DDR und in Jugoslawien auf und studierte in Belgrad Schauspielregie. Er inszenierte am Centraltheater Leipzig, am Deutschen Theater Berlin und am Nationaltheater Weimar.  Foto: Katrin Ribbe

taz: Tschechows „Drei Schwestern“ zählt zu den am häufigsten gespielten Stücken auf deutschen Bühnen. Eigentlich passiert ja in dem vieraktigen Drama nicht viel. Warum ist der Stoff so populär?

Sascha Hawemann: Ich glaube, dass man in Tschechows Text ein Äquivalent findet, was sprachlich und inhaltlich genauer ist als viele Texte der Gegenwartsliteratur, aber trotzdem ein Spiegel von Gegenwart sein kann. Und dass man die Unruhe, die Stagnation und das Nicht-Funktionieren einer Gesellschaft damit sehr klar beschreiben kann. Es ist in einer Zeit entstanden, die mich an heute erinnert. Ideologisch passiert nichts, utopisch passiert nichts. Verworrene Sehnsüchte der Menschen gehen irgendwo hin, finden aber keinen Anker.

Das Stück spielt in der russischen Provinz um die Jahrhundertwende, fernab der Hauptstadt Moskau. Was hat das mit unserer Gesellschaft zu tun?

Es geht ja um Lebensentwürfe. Um die Frage, was für ein Leben würde ich gerne führen wollen, wie kann ich heraustreten aus meiner Existenz. Ich glaube, dass die sogenannte Provinz in diesem Stück nur ein Katalysator der emotionalen Not ist. Es geht für Tschechows Figuren darum, eine Idee zu haben, die irgendwohin geht. Provinz bedeutet hier Verfestigung von Dingen. Die Entwürfe der Figuren sind total real, wenn sie zum Beispiel sagen: „Ich werde Lehrerin“, und später: „Ich bleibe Lehrerin, ich bleibe verheiratet, ich bleibe weiter unglücklich.“

Tschechows Figuren sind unfähig, in der Gegenwart zu leben. Sie träumen von einer Vergangenheit, die nicht zurückkommt, oder einer imaginären Zukunft. Sie betrügen sich selbst. Wie gehen Sie mit diesen Figuren auf der Bühne um?

Es gibt tatsächlich ein merkwürdiges Bewusstsein von Tschechows Figuren, dass sie im falschen Leben sind. Und das wollen sie ändern. Mich interessiert das Abarbeiten an ihren Lebenslügen und Lebenswünschen. Dass man als Mensch an den Punkt kommt, an dem man emotional und auch intellektuell die Wahrheit über das eigene Leben erkennt und damit umgehen muss. Man will die Wahrheit über das eigene Scheitern ja in der Regel nicht erfahren, man versucht so lange wie möglich an alten und neuen Träumen festzuhalten, festzuhalten bis sie platzen.

... also die typische Tschechow-Problematik?

Die Grundfrage bei Tschechow für einen Regisseur ist, sich zu entscheiden, erzähle ich nur Stagnation, erzähle ich nur Stillstand und intellektuelles Gelaber. Oder versuche ich die Frage zu verhandeln, wo geht mein Leben hin. Und das finde ich die spannendere Variante, dass die Figuren aktiv mit ihren Entwürfen umgehen.

Also haben die Figuren in Ihrer Inszenierung auch eine reale Chance, etwas zu ändern?

Das Problem ist, dass sie von Akt zu Akt immer weniger Möglichkeiten haben, etwas zu ändern, so wie bei jedem Menschen mit zunehmendem Alter die Möglichkeiten immer begrenzter werden. Es vergeht ja zwischen jedem der Akte immer Zeit. Und dann wird es natürlich immer schwieriger, an der Idee festzuhalten, ich möchte etwas Neues entwerfen und mein Leben ändern. Dann hat man doch seinen Kompromiss geschlossen. Man fängt kompromisslos an mit der Idee, ich will raus, und passt sich doch an Gegebenheiten an, an das Tagesgeschäft und das, was an Möglichkeiten da ist. Man hat irgendwann einfach keine Kraft mehr, den Wurf zu machen. Und man hat auch keine Kraft mehr, an seinen Illusionen festzuhalten. Es ist die Frage, wie lange gelingt es diesen Figuren, ihr Wolkenkuckucksheim im Kopf zu erhalten.

„Drei Schwestern“: Schauspiel Hannover, 28. 9. (Premiere), 29. 9., 4. 10., jeweils 19.30 Uhr