: Okkultes von der Strumpfhose
Kunst und Konsum: Wie das Museum zum Ort des Renditenstrebens und der Demütigung wurde
Vor ziemlich genau drei Jahren setzte ich mich an meinen Schreibtisch, klappte den Laptop auf und tippte: „Wer Kunst liebt, darf Kunst hassen. Alles andere wäre verlogen.“ Dann las ich den Satz noch einmal und korrigierte: Alles andere ist verlogen.
Ich war in der Nacht zuvor auf einer Party im Berliner Wedding gewesen, in einer ehemaligen Fabriketage, einem Off-Space, der die Menschen mit dem Plakat begrüßte: „Jedes Event ist ein Diskurs“. Ich wanderte an zusammengeknüpften Strumpfhosen entlang, sah silberne Luftballons an der Decke kleben und las dazu den Text: „Dwyers Interesse gilt seit mehren Jahren dem Okkulten. Die aktuelle Installation hebt ihr Interesse an Magie und Parallelwelten auf ein neues Niveau“. Viele Menschen in grellem Licht tranken Bier. In einem Nebengebäude kletterte „Yoko Ono“ auf die Bühne und sang. Sie war 78 und die Musik sehr, sehr laut. Ich hatte zuvor einen Sommer lang Kunstausstellungen besucht, so viele wie lange nicht mehr. Als Besucherin. Nicht als Journalistin. Ich sah Blockbuster-Ausstellungen, kleine Ausstellungen, temporäre Ausstellungen, Sammlungsausstellungen, Ausstellungen in Hinterhöfen und die in den Häusern großer Sammler. Zum ersten Mal machte ich mir dabei Notizen. Denn die Kunst hatte sich für mich verändert: Sie langweilte mich. Und ich wollte wissen, warum.
Kunst verschafft uns, ähnlich wie die Natur, die Möglichkeit einer Flucht. Und sie hat die Kraft, alles zu verändern. Einmal einen Donald Judd gesehen, und nichts ist, wie es vorher war. Einmal auf das kleine Bildnis eines Interieurs bei Vilhelm Hammershoi geblickt, und nichts ist, wie es vorher war. Ich bewunderte Wolfgang Tillmanns für seine ehrlichen Fotografien und wurde von den Smashing Pumpkins überrollt wie von Johann Sebastian Bach und Thomas Bernhard. Durch die Kunst erfahren wir, wer wir sind und wer wir sein können. Mit Mitte 20 erholte ich mich in fast jeder Mittagspause in der Hamburger Galerie der Gegenwart von der Ödnis meines ersten Büroalltags – und ließ mich von Bruce Nauman anschreien. Die Kunstmessen wurden zu jener Zeit immer bunter, lauter, kreischiger. Als Hommage an den Kunstgeldporno nannte ich die Kunstmesse Art Cologne im Geiste: Hard Cologne. Ein Künstler hatte bunte Eisschirmchen auf eine Leinwand gesteckt. Das war so ziemlich das Blödeste, was es auf der Messe zu sehen gab, aber damals noch die Ausnahme. Das war 2003. Ein paar Jahre zuvor war die Sammlung des Berliner Künstlers Herbert Volkmann unter den Hammer gekommen. Werke von Matthew Barney, Damien Hirst, Daniel Richter und Jonathan Meese wurden bei Christies für viel Geld verkauft. Für Galeristen und Künstler zunächst ein Skandal. Sie fühlten sich in ihrer Aufbauarbeit betrogen, erkannten allerdings auch das finanzielle Potenzial, das junge Kunst verspricht. Und dann ging es richtig los. Die Spekulation auf junge Kunst begann. Ihren Höhepunkt feierte sie zeitgleich mit dem Crash der Finanzindustrie: In jenem September 2008 eröffnete Jeff Koons „Jeff Koons Versailles“, eine Ausstellung, die Christies-Eigentümer François Pinault zu großen Teilen finanziert hatte. Damien Hirst versteigerte wenige Tage später extra für eine Aktion angefertigte Werke für 11 Millionen Pfund.
Nichts war für mich weiter entfernt als 11 Millionen Pfund. Ich ging mit der Künstlerin Yael Bartana in Istanbul Mittag essen, weil ich zufällig die Wohnung neben der Galerie bezogen hatte. Wir aßen Suppe und unterhielten uns über Israel. Ich besuchte die Istanbul Biennale. Und bekam bei den „Berlin Stories“ im Louisiana Museum in Kopenhagen Heimweh nach Berlin. Irgendwann ging ich wieder auf eine Kunstmesse – und sah jetzt sehr viele Bilder mit Eisschirmchen. Die Auswirkungen des Markts waren sichtbar geworden. Es gab immer mehr Kunst, jedes neue Haus, jede neue Biennale musste gefüllt werden. Damit wuchs jedoch nicht die Qualität.
Der Markt verzerrt den Blick, weil er nach eigenen Regeln funktioniert, er strebt nach Rendite. Geld und Kunst schließen sich in ihrem Ursprung jedoch aus: Das eine, das Geld, ist in sich eine objektive Bewertung, das andere, die Kunst, entzieht sich dieser Objektivität. An das Kunstwerk, das weder in seiner kulturellen Bedeutung noch in der handwerklichen Qualität eindeutig zu beurteilen ist, wurde also ein objektiver Maßstab angelegt, den allein der Markt definiert. Der Kunstbetrieb opferte sich seiner Vermarktung, die Kunst verlor ihre Eigenständigkeit. Sie wurde belanglos.
Doch statt einer Gegenreaktion, statt thematisch anregender Ausstellungen, statt neuer Ideen und neuer Formate kapitulierten die Kuratoren vieler großer Häuser – und setzten auf Blockbuster. Picasso, Matisse und Warhol blockierten fortan die Ausstellungshäuser. Der Inhalt wurde hintenan gestellt, das Publikum unterfordert. Und die Galeristen? Waren auf dem Höhepunkt ihrer Gestaltungsmacht plötzlich ohnmächtig: „Was soll ich denn machen, wenn ein Kollege einen drittklassigen Richard Prince anbietet?“ Tja, was soll man da machen? Der Hamburger Sammler Falckenberg kommentiert: „Die Entwicklung der vergangenen Jahre ist nicht frei von Ironie. Angetreten mit dem Ziel der Avantgarde, die Kunst jenseits elitärer Vorstellungen im Leben der Menschen zu verankern, ist sie eben dort wieder angekommen.“
Aber nicht nur die Inhalte veränderten sich: Zum ersten Mal nahm ich auch die Atmosphäre in den Ausstellungshäusern anders wahr. Museen wollen Bildung vermitteln, aber nicht pedantisch wirken, sie wollen demokratisch sein, ohne gewöhnlich zu werden. Eine Aufgabe, die scheinbar verunsichert. Wir gehen mit Ehrfurcht durch die Hallen. Wir schämen uns wie ein Schulkind, wenn wir das Werk nicht einordnen können. Laut über unser Unwissen zu sprechen, erscheint unmöglich. Statt eines Bildungszugangs schimmert ein Bildungsanspruch durch die Häuser: Wenn du das nicht verstehst, bist du dumm. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn du es verstehst, bist du intelligent. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, sitzt deshalb tief. Der Einzelne im Publikum bezeichnet sich selbst als „Laie“. Eine ganze Reihe von Ratgeberbüchern gibt dem hilflosen Publikum Tipps an die Hand und sagt, was Kunst ist.
Das Ergebnis: Anstatt uns selbst den Sachverstand zuzubilligen, ein Urteil zu formulieren, bewundern wir Kunst, die uns langweilt, und versuchen verzweifelt auch noch im letzten Winkel eines Kunstwerks einen Sinn zu entdecken. Früher haben wir uns sonntags in der Kirche demütigen lassen, heute gehen wir dafür ins Museum. Warum ist es so verkrampft? Der monetäre Wert schüchtert ein, das Museum schüchtert ein, der bedeutendste, genialste, wichtigste Künstler schüchtert ein. Das Museum hat immer recht, es spricht mit uns und es spricht mit Autorität. Es diszipliniert. Berühren verboten. Kritik unerwünscht. Das hat kein Publikum, das hat kein Künstler verdient. Die Sprache in der Kunst, das Mittel, das einordnet und den Kontext erklärt, hat ihren eigenen Weg ins Absurde gefunden. Den Weg des Mythischen. So wie Strumpfhosen das Okkulte versprechen, wird aus zwei Strichen auf dem Papier ein Mythos auf dem Papier: „Was sich differenziert, was sich sukzedierend nebeneinander anordnet, präsentiert sich im Raum einer Simultaneität.“
Das Problem ist, wir mögen Kunst. Wir mögen ihre Verheißung, ihre Verarschung, ihre Schönheit, ihren Abgrund. Wir mögen die Kunst für ihre Nähe zum beruhigenden Bildungsbürgertum und ihre gleichzeitige Nähe zum Punk. Und weil wir sie so mögen, nehmen wir vieles in Kauf. Auch die eigene Verlogenheit. Wir wollen sie nicht ablehnen, wir wollen sie nicht hassen. Doch Kunst braucht Ehrlichkeit. Kunst zu hassen ist deshalb eine Annäherung. Eine Ablehnung, die zur einer Auseinandersetzung führt. Es ist eine Chance, die Dinge niederzureißen, um neu zu beginnen. So sollte also jeder auf die Frage: „ Was ist das Innovativste, was Sie kürzlich gesehen habe?“ ehrlich sagen können: „Nichts.“
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