: Auf die Straße für den Bruder
AUS ESSEN HENK RAIJER
Damla hat sich gleich fünf Buttons mit Thanushans Konterfei ans Revers gesteckt. Die 14-Jährige mit der wilden Mähne und dem kecken Grinsen steht in der Vorhalle der Essener Uni-Bibliothek und lässt keinen an sich und ihrer Unterschriftenliste vorbei. „Hier, unterschreib mal, ist gegen eine Abschiebung“, ermuntert eine Studentin ihren Kommilitonen, der das akademische Viertelstündchen schon mehr als ausgereizt hat und dem Damla jetzt eher lästig ist. Die ruft den „Abschiebefall“ kurzerhand zu sich herüber und stellt den Jungakademikern ihren Mitbewohner, den 17-jährigen Thanushan Rasakuddy vor. „Wir sind die Jugendwohngemeinschaft Essen-Kray und machen eine Kampagne, um Thanus‘ Abschiebung zu verhindern“, erklärt Damla die Aktion. „Er hat schon einmal seine Heimat verloren“, sagt die junge Aktivistin. „Thanus ist einer von uns und er soll bleiben.“
Eine Zukunft in Sri Lanka, das er 1998 zur Zeit des Bürgerkrieges als Neunjähriger in Begleitung eines älteren Bruders verließ, kann sich der junge Tamile nicht mehr vorstellen. „Meine Muttersprache spreche ich schon noch ein bisschen, aber lesen und schreiben kann ich sie nicht“, sagt Thanushan, der im August volljährig wird und in dem Moment als nicht anerkannter Flüchtling seine befristete Duldung verliert. „Aber inzwischen habe ich Deutsch gelernt, im nächsten Jahr mache ich meinen Hauptschulabschluss“, erzählt der schmächtige junge Mann mit der weißen Strickmütze, der leise, aber präzise artikuliert und eher höflich als schüchtern wirkt. Es ist ihm aber sichtlich unangenehm, offensiv über sein Schicksal zu sprechen.
Für das Essener Ausländeramt ist der Fall klar. Thanushan Rasakuddy ist nach der Ablehnung seines Antrags auf Anerkennung als Asylbewerber vom Dezember 1999 und dem Urteilsspruch im Widerspruchsverfahren vom Dezember 2005 definitiv „ausreisepflichtig“. Nicht nur herrsche in Sri Lanka seit 2002 Waffenstillstand zwischen Armee und Rebellen. Auch von Verfolgungsgefahr durch die Zugehörigkeit zur tamilischen Bevölkerungsgruppe oder durch eine exilpolitische Tätigkeit könne laut Gerichtsbeschluss keine Rede sein. Humanitäre Gründe wie der lange Aufenthalt, die gelungene Integration sowie die feste Einbindung in die Gesellschaft sind da ganz offenkundig nicht relevant.
Und genau das macht Wolfgang Gröber wütend. „Hier hat sich einer auf eigenen Wunsch in unsere WG vermitteln lassen, lebt seit Sommer 2004 mitten in der Gruppe, spricht fließend Deutsch und will arbeiten, um nicht von den Zuwendungen des Staates abhängig zu sein. Den kann man doch nach all den Jahren nicht einfach zurückschicken, zumal ohne Ausbildung“, regt sich der 43-jährige Sozialarbeiter auf. Mehrmals muss Gröber während der Aktion im Unigebäude „vor die Tür“, „um eine zu rauchen“. Wie die Jungs und Mädchen der Jugendwohngemeinschaft (JWG) Kray, die er zusammen mit fünf weiteren Erziehern in Diensten der evangelischen Jugend- und Familienhilfe Essen betreut, trägt auch Gröber an diesem kühlen Tag vor Ostern ein weißes T-Shirt mit dem Schriftzug „Thanus soll bleiben“.
An die tausend Unterschriften sammeln die Jugendlichen um Gröber, der seit sieben Jahren in der JWG Kray arbeitet und die Bleiberechtskampagne für Thanushan Rasakuddy initiiert hat, binnen weniger Stunden an der Essener Uni. „Damit wären wir jetzt bei knapp 11.000“, sagt der Mann mit dem Millimeterhaarschnitt und einem Ensemble kleiner Ringe im linken Ohr nicht ohne Stolz. Mit der Unterschriftenaktion „Thanus soll bleiben“ wolle man den Antrag an die Härtefallkommission, der im Mai gestellt wird, mit Argumenten unterfüttern. „Eine Ausbildung ist das Minimum, das wir für Thanus rausholen wollen“, erklärt Gröber, der sich von der Solidarität der JWG-Bewohner beeindruckt zeigt: „Es ist toll, wie sich unsere Jugendlichen aktiv für ihren ‚Bruder‘ einsetzen.“
Fünf Mädchen und vier Jungs im Alter zwischen 14 und 17 Jahren, die aus unterschiedlichen Gründen wie Gewalt, Verwahrlosung oder Missbrauch nicht in ihrem Elternhaus leben können oder – wie im Falle Thanushan Rasakuddy – im Raum Essen keins haben, betrachten die JWG Kray als vorläufiges Zuhause. Thema beim spätnachmittäglichen Essen in der Küche der Wohngemeinschaft sind die Vorbereitungen auf das Unterstützertreffen am Abend, zu dem rund 30 Leute erwartet werden. Damla muss vorher noch dringend Zigaretten besorgen, Thanushan zieht es nach der Aufgabenverteilung in den Kraftraum im unteren Stockwerk, wo er sich bei lauter Rapmusik an einem roten Sandsack zu schaffen macht.
Zwei Jahre verbringen die Jugendlichen, die vom Jugendamt der Stadt in die JWG vermittelt werden, in der Regel im Haus. Hier können sie, von einer Bezugsperson betreut, ihr Leben neu sortieren und eine Perspektive entwickeln. „Wir haben den Anspruch, Jugendlichen eine größtmögliche Selbständigkeit zu vermitteln, dafür zu sorgen, dass sie einen Schulabschluss machen und die für das Leben notwendigen sozialen und persönlichen Kompetenzen erlangen“, erläutert Wolfgang Gröber die Ziele des Trägers. „Einen Schulabschluss schaffen wir für alle, und auch ein Ausbildungsplatz ist für die meisten drin.“
Auch Thanushans Chancen stehen da nicht schlecht – vorausgesetzt, der junge Tamile darf in Essen bleiben. Unterstützung bekommt er dafür von Mitgliedern der evangelischen Kirchengemeinde Kray, von engagierten Bürgern wie auch von seinen Mitschülern der 9. Klasse der Gesamtschule Bockmühle in Kray. Thomas Lipkowski bezeichnet seinen Klassenbesten in Mathematik als ein „Beispiel gelingender Integration“. Durch eine Abschiebung „verlöre die Klasse einen hilfsbereiten, den Unterricht bereichernden Mitschüler. Er selbst würde in seiner Entwicklung enorm zurückgeworfen“, sagt Thanushans Klassenlehrer, der seinem Schüler beste Chancen auf einen Abschluss in der Sekundarstufe I bescheinigt.
„Unsere Aussichten, mit dem Antrag an die Härtefallkommission Erfolg zu haben, steigen immens, wenn es uns gelingt sicherzustellen, dass Thanushan für die Dauer einer Berufsausbildung keinerlei Unterstützung aus öffentlichen Kassen braucht“, sagt Wolfgang Gröber. Gesucht wird folglich eine Firma, die ihm einen Ausbildungsplatz in Aussicht stellt. Für die Zeit nach Thanushans Schulabschluss im Frühjahr 2007 ist Gröber zuversichtlich: „Er ist fleißig, immer hilfsbereit und ehrlich. Wer ihn ausbildet, wird zufrieden sein.“
Thanushan möchte KFZ-Mechaniker oder Schreiner werden. „Meine Eltern in Jaffna, zu denen ich seit kurzem wieder Kontakt habe, wollen, dass ich arbeiten geh‘ und sie unterstütze“, bedauert er. „Ich will aber erst mal lernen“, sagt Thanushan, der in seiner Freizeit beim Essener Fußballklub Tura 86 in der A-Jugend spielt und sich, anders als viele Tamilen, vorwiegend in einem „deutschen“ Umfeld bewegt.
An Thanushans Integrationsbereitschaft besteht also kein Zweifel. Leider gibt es im Ausländerrecht, wie die innenpolitische Sprecherin der grünen Landtagsfraktion, Monika Düker, moniert, „keinen Anspruch auf ein Bleiberecht nur wegen der in Deutschland verbrachten Lebenszeit und den erbrachten Integrationsleistungen“. Der Fall Thanushan zeige: „Die Zeit ist reif für eine Bleiberechtsregelung, die diese beiden Faktoren aufgreift“, so Düker. Heute bleibe als „Gnadenrecht“ nur die Härtefallkommission. „Was wir brauchen, ist ein Regelanspruch auf Bleiberecht für lange in Deutschland lebende integrierte Flüchtlinge.“
Einen Aufschub dürfte der Antrag an die Härtefallkommission auf jeden Fall bringen, meint Bernd Brack von Pro Asyl Essen. „Das Ausländeramt der Stadt hat sich verpflichtet, die Empfehlung der Kommission abzuwarten“, sagt Brack. Von ihr erwartet er ein positives Signal – und dass das Amt der Empfehlung folgt. Das bedeutete für Thanushan, dass er zumindest für die Zeit einer dreijährigen Ausbildung eine Bleibeerlaubnis erhielte.
Damla glaubt an den Erfolg. „Weil Thanus hierher gehört“, findet sie, räumt den WG-Tisch ab und fingert eine Kippe aus der neuen Packung. Die 14-Jährige will sich weiterhin Passanten in den Weg stellen, sie tausendfach überzeugen, dass Thanushan nicht abgeschoben werden darf.