: berliner szenen Holocaust-Mahnmal
Ohne Verstand gewarnt
Eine Tübinger Doktorin der Philosophie hatte sich einen Herzenswunsch erfüllt und das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas besichtigt. Doch bereits nach einer Stunde vor Ort war dieser Ausflug für sie zur größten Enttäuschung ihres Lebens geworden.
Aus ungezügelter Wut über die unbotmäßigen Touristen, die sie auf den Stelen hatte umheralbern sehen, versuchte sich die Akademikerin zu rächen. Monatelang schaltete sie seitenweise Inserate in allen wichtigen Zeitungen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs, in denen sie zukünftige Interessenten davor warnte, dieses „Verlogenheitsareal“ aufzusuchen. Schließlich würde das nur noch infam wirkende Mahnmal samt seinen stumpfsinnigen Alltagsbesuchern wenn überhaupt, dann der Verhöhnung der Opfer des deutschen Massenmords und der totalen Hauptstadtmegalomanie dienen – das sei die Wahrheit.
Die Tübinger Doktorin der Philosophie hatte mit diesen von ihr selbst so übertitelten „Antideutschlandanzeigen“ naturgemäß binnen kürzester Zeit den eigens aufgenommenen Sparkassenkredit restlos aufgebraucht und sich ins totale finanzielle Unglück gestürzt. Zudem hatten ihre großflächigen Inserate auf die begeisterten Berlinreisenden überhaupt nicht den von ihr erhofften Einfluss gehabt: Ganz im Gegenteil vergrößerte sich die Anzahl gedankenloser Mahnmalbesucher hoffnungslos weiter, ja erfuhr sogar Zuwächse gegenüber dem Vorjahr. Mittlerweile hat sich die Frau in den Tübinger Vorort Hagelloch zurückgezogen. Angeblich verdient sie ihr täglich Brot nun durch den Versand anarchisch-erotischer Broschüren, in denen nackte Frauen mit Gasmasken posieren.
JAN SÜSELBECK