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Archiv-Artikel

Wahl der kleinen Parteien

GROSSBRITANNIEN Cameron ist feige, Brown auch. Daher werden erstmals seit 90 Jahren die Liberalen wichtig. Und die Briten driften immer weiter nach rechts

Ralf Sotscheck

■ ist Irland-Korrespondent für die taz und selbstverständlich auch für Großbritannien zuständig. Gerade erschien die Neuauflage seiner „Gebrauchsanweisung für Irland“ (Piper).

Jetzt wird es doch noch spannend. Vor einem halben Jahr galt es als sicher, dass die Tories die seit 13 Jahren regierende Labour Party bei den britischen Wahlen am Donnerstag ablösen würden. Der Wahlkampf versprach eine unendlich dröge Angelegenheit zu werden. Doch dann willigten die Chefs der beiden großen Parteien, David Cameron und Premierminister Gordon Brown, törichterweise ein, dem Liberalen-Chef Nick Clegg einen gleichberechtigten Platz bei den drei Fernsehduellen einzuräumen. Nun haben sie den Salat.

Clegg brachte frischen Wind in die Debatten. Die Liberalen könnten Labour sogar auf den dritten Platz verweisen. Ihren Aufstieg hat sich die Regierungspartei selbst zuzuschreiben. Die Politik von New Labour ist von der Angst geprägt, Old Labour könnte wiederauferstehen, würde man auch nur einen Schritt nach links wagen. „Tony Blairs großes Vermächtnis ist die Vollendung von Margaret Thatchers Ambitionen“, sagt der Politikprofessor John Curtice von der Strathclyde University.

Labour ohne Fabrikarbeiter

Natürlich kann man 2010 nicht auf die Politik von Old Labour zurückgreifen, dazu hat sich Großbritannien zu sehr verändert. Der Anteil von Fabrikjobs ist von 28,5 Prozent im Jahr 1979 auf heute 10 Prozent gesunken. Damals war die Hälfte aller Arbeiter in der Gewerkschaft, heute ist es nur noch ein Viertel. Und je weiter sich Labour in die Mitte bewegte, desto weiter bewegte sich die britische Gesellschaft nach rechts. Befürwortete 1997 noch die Hälfte der Bevölkerung eine Umverteilung von oben nach unten, so sind es heute nicht mal mehr 30 Prozent. Ebenso wenige finden, dass das geringe Arbeitslosengeld zu niedrig ist. 1997 meinten das noch 46 Prozent.

Dieser neue Konservativismus bedeutet aber nicht, dass jede radikale Politik unmöglich wäre: eine Bankenreform zum Beispiel, wo zuallererst das Privatkundengeschäft vom Investmentbanking getrennt und eine Kommission gebildet wird, die das Bonussystem überwacht; oder der Verzicht auf die Erneuerung der Trident-Atom-U-Boote, was rund 80 Milliarden Pfund einsparen würde. Zwei Drittel der Briten unterstützen solche Maßnahmen, wie der linke Think-Tank „Compass“ feststellt, der auch weniger weltbewegende populäre Maßnahmen vorschlägt, etwa eine Steuer auf Reklamepost oder ein Verbot von Werbung, die auf Kinder unter zwölf abzielt. Mit all diesen Programmpunkten hätte Labour die Wahl gewinnen können, glaubt Compass.

Brown pocht indessen darauf, dass nur er mit seiner langjährigen Erfahrung als Schatzkanzler und Premierminister Großbritannien aus dem Finanzschlamassel ziehen kann. Dabei hat seine Regierung mit ihrer Deregulierungspolitik und der Hörigkeit gegenüber dem Londoner Finanzdistrikt erheblich dazu beigetragen. Und was sollen die britischen Werte und die moralische Außenpolitik sein, von denen Brown so gern spricht? Die Einschränkung der Bürgerrechte im Zuge der Terrorismusbekämpfung etwa? Oder zwei Kriege und das Mitmischen bei der Gefangenenfolter?

Cameron verprellt Konservative

Warum aber müssen die Tories überhaupt um ihren Wahlsieg zittern, wenn es so schlecht um Labour bestellt ist? Weil ihr Parteichef Cameron ebenso feige ist wie Brown. Er hat die Partei zwar von den übelsten Auswüchsen des Thatcherismus befreit, er hat sie behutsam etwas weiter in Richtung Mitte manövriert, doch das führt zu erheblichen Widersprüchen.

Cameron biedert sich beim liberalen Bürgertum an, tönt aber gleichzeitig, dass die liberalen Werte am Niedergang des Landes schuld seien. Er redet von Bürgerrechten, will aber nach seinem Amtsantritt das britische Menschenrechtsgesetz abschaffen. Er sagt, Großbritannien müsse eine konstruktive Rolle in Europa spielen, verbündet sich in Straßburg aber mit Parteien am rechten Rand, die nicht europafreundlich, sondern ausländerfeindlich sind. Er verspricht ein gerechteres Steuersystem und will die Erbschaftsteuer für die Reichen senken.

Cameron ist den Tory-Stammwählern suspekt. Es ist ihm nicht gelungen, die Rechte in Großbritannien zu vereinigen, wie es Jacques Chirac in Frankreich und George W. Bush in den USA getan haben. Während er seine Tories den liberaleren Kreisen schmackhaft macht und zu Themen wie Einwanderung und ausländische Arbeitskräfte lieber den Schnabel hält, verunsichert er sein Publikum, das zum Teil zu kleineren rechten oder sogar rechtsradikalen Parteien abwandert.

Widersprüche der Liberalen

Die Briten wollen keinen Sozialstaat, aber trotzdem die Regulierung des Finanzmarktes. Labour hat das nicht bemerkt

Da die Labour Party das Vertrauen der Öffentlichkeit verspielt hat und die Tories es noch nicht gewonnen haben, könnten die Liberalen Demokraten erstmals seit 90 Jahren wirklichen Einfluss auf die britische Politik nehmen. Die Liberalen sind eine Partei der Mittelschicht. Sie stehen häufig links von Labour, auch wenn sie sich unter Clegg nach rechts bewegt haben. Sie haben sich Steuersenkungen verschrieben, was zu noch tieferen Einschnitten im öffentlichen Dienst führen würde. Sie bekennen sich zur Gleichberechtigung, fördern aber weder die Wahlkandidatur von Frauen noch von Mitgliedern ethnischer Minderheiten.

Gleichzeitig sind sie die einzige Partei, die für eine umfassende Reform des britischen Wahlsystems eintritt. So fordern sie, das Mehrheitswahlrecht abzuschaffen, und wollen stattdessen die proportionale Repräsentation. Das hat auch Nachteile: Die aufgrund des Prinzips „The winner takes it all“ spannende Fernsehwahlnacht mit Liveschaltungen in die einzelnen Wahlkreise würde ebenso wegfallen wie die Möglichkeit, seine Abgeordneten an der Wahlurne ordentlich zu bestrafen. Allerdings müssten die Wähler ihre Stimme nicht mehr aus taktischen Gründen dem kleineren Übel geben, weil die Partei ihres Herzens ohnehin keine Chance hat. Dafür aber müssten sie hinnehmen, dass auch die rechtsextreme British National Party ins Parlament einziehen würde.

Dieses Mal dürften die Liberalen noch am Mehrheitswahlrecht scheitern, also nicht annähernd so viele Sitze gewinnen wie Labour oder Tories. Obwohl sie proportional deutlich gewonnen haben. Doch in ihrer Rolle als Königsmacher dürften sie gleichwohl dafür sorgen, dass 2010 zum letzten Mal nach Mehrheitswahlrecht gewählt wird. RALF SOTSCHECK