: Kinder an der Front
JUBELWOCHE Wie taz2 seine heroische Gründungsphase im Diskursgewitter überlebte – und sich auch noch fortpflanzte
■ Anlass: Am 18. 10. 2003 erschien taz2 zum ersten Mal. Aufmacher war ein Interview mit der Politikerin Sigrid Skarpelis-Sperk.
■ Begehung: Eine Woche lang, also bis zum kommenden Freitag feiert das Gesellschaftsressort auf dieser Seite Geburtstag. Morgen auch mal mit Selbstreflexion.
VON MARTIN REICHERT
Als taz2 gegründet wurde, also vor zehn Jahren, war man mit 30 in dieser Zeitung noch sehr jung. Das hatte unter anderem mit der damaligen Angewohnheit des Langzeitstudierens zu tun – man prokrastinierte sich der drohenden Arbeitslosigkeit davon, denn auch damals war schon oder schon wieder Medienkrise, ich weiß nicht mehr genau warum.
Das Internet war noch nicht schuld, aber zumindest die taz war gerade dank diverser Rettungskampagnen einer lebensbedrohlichen Krise entkommen. Das neue Ressort taz2 sollte nun ein wichtiger Schritt in die Zukunft sein. Es sollte den „Alltag“ abbilden, Gesellschaftsthemen aufgreifen, auch solche des Boulevards. Menschen sollten zu Wort kommen, insbesondere Prominente. In Form von Interviews zum Beispiel, oder Kurzstatements in der Rubrik „Das gibt zu denken“. Persönlich geprägte Kolumnen wurden eingeführt, in denen oft das Wort „Ich“ vorkam. Und ein „Talk of the Town“, in dem politische Themen auch mal „quergebürstet“ werden sollten. Das alles aber tazzig und politisch und links, aber anders.
Das kam nicht gut an.
Damit könnte die Geschichte schon zu Ende erzählt sein, aber taz2 gibt es trotz zahlreicher Forderungen nach Abschaffung, Einstampfung, Auflösung und sonstiger Vernichtung noch immer. Und hat sich fortgepflanzt. Die sonntaz zum Beispiel, das erste Modul der mittlerweile komplett neuen Wochenendausgabe, war ein direkter Abkömmling der taz2. Und insbesondere in den kleineren Rubriken wurden Ausdrucksformen von taz.de lange vor dessen Einführung vorweggenommen. Das schnelle, bisweilen auch mal Kurzatmige statt Ausgeruhte. Produkt- und Konsumthemen, das Spielerische.
Wie konnte es zu dieser Fortpflanzung kommen?
Es war ein Krieg. Genauer gesagt: Ein Kinderkreuzzug, bestückt mit ProtagonistInnen der Generation Golf – mein damaliger Ressortleiter fuhr zumindest einen, der fast auseinanderfiel und morgens zuverlässig im Halteverbot vor dem taz-Gebäude stand, wenn ich meinen Dienst antrat.
Ein Krieg, den ich zunächst nicht verstand, wohl aber hatte ich schnell begriffen, das man stets auf Helm und Splitterweste achten sollte.
Nach meiner ersten „Blattkritik“ im Namen von taz2 litt ich wochenlang unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ICH der Kritiker auf der morgendlichen Redaktionskonferenz sein sollte, aber umgekehrt wurde dann schließlich ein Schuh daraus. UNTERKOMPLEX war noch einer der höflicheren Begriffe, mit denen von nun an zu rechnen war. Stets lief man Gefahr „hinter den Wissenstand zurückzufallen“, „soziologisch falsch“ zu argumentieren und überhaupt Zusammenhänge nicht zu erkennen, weil man eben die letzten zehn Jahre nicht in einem palästinensischen Flüchtlingscamp im Libanon verbracht hatte, sondern irgendwo beim Studium. „Was, Du hast studiert?“ fragte mich dann eines Tages ein Kollege. Was hätte ich sagen sollen? „Nein, ich habe eine Friseurlehre gemacht und dann hat mich der Chefredakteur beim Gokart-fahren gecasted“?
Warum grüßten die KollegInnen auf der gleichen Etage nicht? Warum wurden einem Türen vor der Nase zugeknallt? Wieso waren nie Texte von anderen Redaktionsmitgliedern da, sondern immer nur Weißraum?
Ich wusste es nicht. Ich war froh, im Bunker zusammen mit den anderen Kindern aus dem Kreuzzug einigermaßen in Sicherheit zu sein, dafür war ich bereit, jedes Loch „vollzuschreiben“.
Der Bunker bestand aus einem Raum im vierten Stock, ohne eigenes Fenster, indem wir wie in einer Legebatterie aufgereiht saßen. Es gab einfach keinen Platz für das Neue und natürlich auch kaum Geld im Etat. Dafür rauchten wir alle Kette.
Und ich muss sagen: Es war ein großartiges Abenteuer. Jeden morgen trafen wir uns und überlegten fieberhaft, welche Themen wir heute aufgreifen könnten. Schon am Abend, vor dem schlafen gehen, hatte ich mir in der Regel Notizen gemacht, über Ideen gebrütet. Es gab, so hieß es seinerzeit raunend, das Bestreben, uns „auszuhungern“. Ohne Texte, ohne Mitarbeit der Kollegen würden wir irgendwann aufgeben.
Auf diesem Weg hatten wir die Möglichkeit, wirklich alles zu machen, auch wenn uns manchmal die Köpfe rauchten, die dann abends mit viel Bier „abgelöscht“ werden mussten. Und auch dann ging es wieder um: die taz, taz2, was könnte eine „Seite 13“ sein und was ein „Talk“.
Zwischendrin kamen, neben Hassmails von erbosten LangzeitleserInnen („Dafür wurde die taz nicht gegründet“, „Bild-Zeitungsniveau“), Fragen von interessierten Journalistikstudenten oder Medienwissenschaftlerinnen über den Ressortmailverteiler: „Was genau ist eigentlich taz2?“. Tja, so richtig wussten wir das auch nicht, und genau das war ja das Aufregende.
Erst später begriff ich, was unter den teilweise hart geführten Auseinandersetzungen lag. Taz2 war etwas ganz Neues, ein Experimentierfeld, ein Ort der Freiheit – und viele der KollegInnen im Haus hätten sich vielleicht gewünscht, dabei zu sein, um dort ihren Traum von Journalismus zu leben. Ein politisches Feuilleton, Kulturseiten mit einem völlig neuen, interessanten Pop-Zugang, ein Tummelplatz für Humor und Satire. Schlicht: Eine Wundertüte auf zwei Seiten, und die ist sie dann ja auch geworden, nachdem sich irgendwann die ersten Aufregungen gelegt hatten. Die taz ist eben eine Ansammlung von Idealisten – und manchmal wirkt sie wie ein permanent tagender Volkskongress. Das müssen wir machen! So geht das auf keinen Fall! Es ist ein Strukturdefizit! Bei all den Konflikten ging es womöglich gar nicht darum, dass „wir“ etwas jünger waren; vielleicht war es gar kein Kinderkreuzzug. Eher ein Glaubenskampf um den Journalismus der Zukunft.
Einige der KollegInnen aus der Frühphase von taz2 arbeiten nicht mehr für die taz, einer von ihnen ist leider verstorben: Christian Semler.
Nein, offiziell war er nicht in der taz2-Redaktion, aber zusammen mit Helmut Höge saß er als wohlwollender „Senior“ im Raum direkt neben unserer Legebatterie. Immer freundlich, immer gesprächsbereit. Und er hat gerne und bereitwillig für uns geschrieben. Und weil das hier einer dieser notorischen „Ich“-Texte ist, sage ich: Ich vermisse ihn, und seine Unterstützung hat mich seinerzeit immer ermutigt. Selbst arbeite ich in der taz nun ungefähr so lange, wie es taz2 gibt. Und jung ist man in dieser Zeitung heute mit 25, denn in diesem Alter kommen die jungen KollegInnen von der Journalistenschule oder von der Universität.
Für die taz2 bin ich nun mit vierzig Jahren wirklich viel, viel zu alt. Und schon wieder (oder immer noch?) ist Medienkrise. Aber als sonntaz-Redakteur habe ich die Freude, mit vielen dieser jungen KollegInnen zusammen zu arbeiten.
Dass es einen Altersunterschied gibt, merke ich vor allem, wenn sie mit großem Enthusiasmus völlig neue, existenziell wichtige Themen vorschlagen, die mir seltsam bekannt vorkommen – weil ich selbst schon darüber geschrieben habe, weil ich selbst schon entsprechende Texte produziert habe. Redundanz gehört in einem gewissen Rahmen zum Geschäft, aber umso besser, wenn man von Menschen umgeben ist, die neugierig sind, begeisterungsfähig. Über bestimmte Themen kann und muss man immer wieder neu schreiben. Sonst hätte man es ja in punkto „Liebe“ bei Shakespeares Romeo und Julia belassen können.
Und wie läuft es nun mit der sonntaz? Man kann es sich ja eigentlich denken – wie seinerzeit bei taz2. Immer noch etwas „Neues“. Unterkomplex. Hinter dem Wissenstand. Unsägliche Personalisierung statt Struktur. Dumm und zu jung. Zu viel Weißraum und das alles auch noch in Farbe!
Farbe? Nein, Farbe gab es zur Gründungszeit von taz2 nicht. Wir hatten ja nichts!