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Archiv-Artikel

Abschied von der Realität

RELEKTÜRE Der berühmte Essay des französischen Theoretikers Jean Baudrillard – wiedergelesen von Philipp Schönthaler

Dieses Buch ist eine Mogelpackung. Darauf steht: „Jean Baudrillard. Das radikale Denken“. Nun ist dies aber kein Text, der posthum aufgetaucht wäre, sondern ein Kapitel aus seinem 1996 erschienenen „Das perfekte Verbrechen“. Aber auch in seiner „Langfassung“ ist der Text nur 20 Seiten lang und ihm folgt ein Essay von Philipp Schönthaler. Hier ging es darum, den Essay als Appendix des bekannten Namens segeln zu lassen. Aber bevor man das Buch in die Ecke knallt, sollte man einen Blick auf diesen klugen Essay werfen.

Schönthaler gelingt es, zu erklären, warum man sich diesem erratischen Text zuwenden soll. Und das ist nicht wenig. Denn hier begegnet man nicht dem Baudrillard von „Cool Killer“, der vom Graffiti-Sprayer bis zum Striptease Phänomene meisterhaft analysiert. Ab Ende der 1970er Jahre kreist Baudrillards Theorieproduktion, so Schönthaler, um die Frage, wie kann man gegen den Neoliberalismus, wie kann man gegen dessen ausufernde Produktionslogik anschreiben? Baudrillards Antwort war sein Abschied von der Realität. In unserer Welt des „Hyperrealen“, die alle Objekte in deren Tauschwert und damit in Zeichen verwandelt, gibt es kein Jenseits dieser Zeichenwelt mehr. Für die Theorie bedeutet das, dass sie auf keine verbindliche Wahrheit rekurrieren kann.

Abschied vom Realen bedeutet damit Abschied von „der Dialektik, von der Revolution und von der Utopie“. Als einzigen Ausweg sieht Baudrillard das Unterlaufen des Systems. Statt kritischer Theorie setzt Baudrillard auf eine „Theoriefiktion“. Mit dieser schreibt er gegen die Wert- und Sinnproduktion an. So will er der Aporie der Kritik entkommen, die in jenem Rationalismus befangen bleibt, der das System reproduziert. Genau darin besteht das radikale Denken – verkanntes Zentrum des Baudrillard’schen Denkens, so Schönthaler. Seine Radikalität besteht darin, die Saussure’sche Theorie von der Sprache als reinem Zeichensystem zu praktizieren, Theorie als reine Sprache statt als Sinn zu produzieren. Diese Sinnimplosion versteht er als eine postmoderne „Partisanenstrategie“ in Anlehnung an Guy Debord. Wesentlich ist Schönthaler, dass diese Theoriefiktion nicht einfach das Abdriften in die Irrationalität ist, sondern ein Spiel, eine Illusion.

Und erst ganz am Ende seines Essays rückt er mit dem zentralen Zitat heraus, wonach jede Bedeutung eine Szene braucht, auf der sie auftritt, „eine Szene aber gibt es nur, wenn es eine Illusion gibt“, die einen „mitreißt, verführt und in Aufruhr versetzt. Ohne diese im eigentlichen Sinne ästhetische, mythische und spielerische Dimension gibt es nicht einmal mehr eine politische Szene“.

An diesem Punkt sollte die Diskussion, etwa um die Postdemokratie, erst beginnen. Hier wird klar, was uns an solchen „exaltierten Diskursen“ noch interessieren könnte. Nur stammt dieses Zitat aus einem anderen Baudrillard-Text … ISOLDE CHARIM

Jean Baudrillard: „Das radikale Denken“. Matthes & Seitz, Berlin 2013, 64 S., 10 Euro