: Ein gänzlich ungeniertes Leben
Vor sechs Jahrzehnten kostete ein Bombentreffer den Juden Gad Beck fast das Leben – und befreite ihn aus einer Todeszelle der Gestapo. Bis kurz vor Kriegsende hatte sich der bekennende Schwule im Untergrund behaupten können. Als Opfer habe er sich nie gefühlt, sagt der 83-Jährige heute
VON CIGDEM AKYOL
In den letzten Kriegstagen haben sie ihn doch noch geschnappt. Im April 1945 sitzt Gad Beck in einer dunklen Zelle im Jüdischen Krankenhaus an der Weddinger Schulstraße. Nach drei Jahren im Untergrund scheint sein Überlebenskampf in diesem Kellerloch ein Ende zu finden. Der Sohn eines österreichischen Juden hat sein eigenes Todesurteil bereits unterschrieben. Auch das gehört zu den perfiden Methoden der Gestapo. In seiner Zelle hört der 22-Jährige die Sirenen heulen. Die Bombenangriffe werden immer häufiger. „In diesen Stunden habe ich daran gedacht, mich aufzuhängen“, erinnert sich Beck heute. Schwärzeste Trostlosigkeit und kein Lichtblick.
Aber Gad Beck ist keiner, der aufgibt. Frech ist sein Auftreten in Freiheit, respektlos. Diese Respektlosigkeit braucht er – nicht nur im Gefängnis. Denn Beck ist schwul, und er lebt es ganz offen aus. Das ist nicht nur ein Risiko im Dritten Reich. Auch mit seinem jüdischen Glauben lässt es sich kaum verbinden. Orthodoxe Juden lehnen Homosexualität als Perversion ab. „Es ist schon schizophren, Jude und schwul zu sein“, sagt Beck heute, im Alter von 83 Jahren. Doch die Vorurteile der anderen waren ihm immer egal – anders hätte er nicht leben und nicht überleben können.
61 Jahre nach der Befreiung aus dem Kellerloch hat Gad Beck Schwierigkeiten, eine Tür zu öffnen. Er ist auf Krücken angewiesen, fast nie lässt er sie los. Seine Wohnung in der Kurfürstenstraße verlässt Beck nur selten. Manchmal besucht er das Café unten im Haus und trinkt ein, zwei Gläser Rotwein. Seine Bewegungen sind behutsam. Aber seine Augen leuchten immer noch hinter der Brille – frech und neugierig. Beck schaut sich permanent um. Feine Linien umspannen seine Mundwinkel. Seine Geschichte erzählt er so munter, als wäre sie die normalste der Welt.
Als Sohn einer christlichen-jüdischen Familie wird Gad Beck 1923 in der Prenzlauer Straße in Berlin-Weißensee geboren. Nach dem Besuch der Jüdischen Schule in Mitte fängt er 1936 als Lehrling bei einem Herrenausstatter in Wedding an. „Das war eine aufregende Zeit“, erinnert er sich. „Ich maß den Männern natürlich dauernd den Schritt.“ Er geniert sich kein bisschen, wenn er schmunzelnd solche Episoden erzählt. Seit seinem zwölften Lebensjahr, erzählt Gad Beck, lebt er seine Liebe zu Männern konsequent offen aus. Die Art, wie er von seinen ersten sexuellen Erfahrungen berichtet, ist vulgär und erschütternd zugleich.
Im Dritten Reich ist jede Äußerung, ja die bloße Andeutung gelebter Homosexualität ein existenzielles Risiko. Er geht es ein – weil er sich nicht selbst verleugnen will. „Ich hab sie alle gehabt“, sagt Beck heute – nein, er verkündet es mit großer Geste. Vom strammen Nazi bis zu seinem Sportlehrer, mit unzähligen wird er intim. Einen „Männerverführer“ nennt er sich heute. Später, während des Krieges, meldet er sich mit einem Freund zur Wache in einem Luftschutzbunker, damit sie einige ungestörte Stunden miteinander verbringen können. Es ist ein provisorisches Leben. Gad Beck schlängelt und schläft sich durch die Naziherrschaft.
Und er feiert Jom Kippur, isst koschere Lebensmittel, betet in der Synagoge. „Wem mein Schwulsein nicht passt, der hat halt Pech gehabt“ – damit ist das Thema für ihn erledigt. Es sind die anderen, die Schwierigkeiten mit solchen Lebensformen haben. Dabei ist gleichgeschlechtliche Liebe ein Tabuthema in der jüdischen Gemeinde. Wie alle großen monotheistischen Religionen hat auch die jüdische mit der Homosexualität große Probleme.
Vor allem die Orthodoxie betrachtet die körperliche Liebe unter Männern als Perversion. „Du sollst nicht mit einem Mann schlafen wie mit einer Frau; ein Gräuel ist das“, steht im 3. Buch Mose, 18, 22 geschrieben. Zwei Kapitel weiter wird das Verbot noch verschärft: „… sterben, ja sterben sollen sie, ihr Blut komme über sie!“ Nach dieser religiösen Auffassung leben homosexuelle Juden und Jüdinnen in ständiger Sünde. Sie sind gespalten zwischen ihrer Religiosität und ihrer Sexualität. Gad Beck hat beschlossen, dass beides in seinem Leben Platz hat – sein Glauben und die Liebe.
In der Pogromnacht am 9. November 1938 bleibt auch sein Arbeitgeber, der Herrenausstatter, nicht von den Nazis verschont. Ein brauner Mob zerstört die Einrichtung, die Randalierer besudeln die Ware. „Jedes Jahr schaue ich mir an, wie man in Deutschland dieses Datum begeht. Wie sie alle dastehen mit todernster Miene“, erzählt er. „Und ich rieche nur die Scheiße von damals.“
Später verrichtet Beck „kriegswichtige“ Arbeiten, er faltet Kartons in einer Lichtenberger Fabrik. So überlebt er als jüdischer Zwangsarbeiter in Berlin. „Die primitivste Tätigkeit, die man sich überhaupt vorstellen kann“, erinnert er sich. „Aber die Scheißkartons waren kriegswichtig. Und deshalb waren auch wir wichtig.“
Als sein Freund 1942 in ein Konzentrationslager transportiert werden soll, unternimmt der 19-jährige Beck eine waghalsige Rettungsaktion. In eine braune HJ-Uniform gekleidet, marschiert er in das Sammellager in der Großen Hamburger Straße. Es gelingt ihm, Manfred Lewin unter einem Vorwand zu befreien. Doch der Geliebte will nicht. „Ich kann nicht mit dir gehen. Meine Familie braucht mich“, sind die letzten Worte von Manfred an Gad. Die beiden werden sich nie wiedersehen. Manfred wird in einem KZ ermordet. „An diesem Tag bin ich erwachsen geworden“, sagt Beck.
Die Situation für Juden wird immer lebensbedrohlicher. 1943 entschließt sich Beck, in den Untergrund abzutauchen und sich dem Widerstand anzuschließen. Er verwaltet Geld, das er von jüdischen Freunden und Organisationen aus dem Ausland bekommt, um damit die Verpflegung und Unterkunft der Verfolgten zu bestreiten. Ein ehemaliger Arbeitgeber stellt ihm als sicheres Versteck einen Wohnwagen im Westhafen zur Verfügung – als Gegenleistung für gelegentliche Stunden zu zweit. Bis kurz vor der Befreiung am 8. Mai hilft er rund 100 Juden, sich in illegalen Wohnungen zu verstecken und mit gefälschten Pässen Deutschland zu verlassen. Einer seiner Schützlinge ist der spätere Moderator Hans Rosenthal, der sich in einer Kleingartenanlage in Lichtenberg versteckt. Beck versorgt Rosenthal zwischenzeitlich mit Lebensmitteln.
Dass Gad Beck die Verhöre der Gestapo überlebt, grenzt an ein Wunder. Es sind die letzten Kriegstage in Berlin, Deutschland steht vor dem totalen Zusammenbruch. Bomben treffen das Jüdische Krankenhaus, in dem er eingesperrt ist. Der Gefangene Beck wird verschüttet. Es ist ein ungarischer Jude, der ihn aus dem Schutt befreit. „Das Einzige, was unter den Trümmern blieb, war einer meiner edlen Schuhe“, lacht er.
Das Leben des Gad Beck ist wie Bergsteigen auf einem Kartenhaus. Gestürzt ist er freilich nie. Nach dem Krieg geht er nach Israel. An die folgenden 23 Jahre kann oder will Beck sich nicht erinnern. Nach vier Schlaganfällen streikt sein Gedächtnis – behauptet er. Aus seinem Leben in Israel bleiben nur Mosaikstückchen. Er hat sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Vielleicht. Er weiß es nicht genau.
Eine Universität besucht er nie. „Ich hatte immer darunter zu leiden, kein Akademiker zu sein“, erzählt Beck. Aus dieser Angst heraus betont er gerne, ein Intellektueller zu sein. Als der damalige Vorsitzende der Berliner Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, ihm die Leitung der Jüdischen Volkshochschule in Charlottenburg anbietet, kehrt er 1978 nach Berlin zurück.
Sein Verhältnis zu der Stadt gleicht dem einer glücklosen Ehe. Sehr viel Liebe, aber auch immer wieder Enttäuschungen. Da sind die Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit in Weißensee, dann der Überlebenskampf im Dritten Reich. Als Opfer hat er sich dennoch nie gefühlt. Und er will auch kein Ankläger sein. Wut auf Deutschland empfindet er keine. „Hassgefühle sind ein Zeichen von Schwäche, und ich konzentriere mich immer darauf, so stark zu sein wie nur möglich“, erklärt er.
Bis 1988 leitet Beck die Bildungsstätte. Neben der bürokratischen Tätigkeit in der Schule hält er Vortragsreisen in den USA und Europa. Er erzählt von seinem Leben unter den Nazis. Gad Beck ist ein begnadeter Unterhalter, der im Gespräch mit Pointen, Histörchen und anekdotischen Exempeln zu glänzen weiß. Er mag es, wenn andere ihm zuhören, er liebt es, vor einem Publikum zu stehen. Bereits im Alter von sechs Jahren hat ihm seine Tante eine winzige Rolle an der Komischen Oper vermittelt. Beck redet mit der Eindringlichkeit eines Landpredigers. Er steigert sich in seine Geschichten hinein, manchmal übertreibt er wohl auch. Aber durch seine forsche Direktheit entwaffnet er seine Kritiker. „Bei Gad Beck schockiert einen nichts“, schmunzelt er. In den Räumen der Jüdischen Volkshochschule veranstaltet er Singlepartys – für Homosexuelle.
Seit 20 Jahren lebt er mit seinem Lebensgefährten zusammen. Nach der Pensionierung schreibt er seine Biografie und diskutiert mit Jugendlichen über die Nazizeit. Kürzlich hat er die Filmrechte an seinem Buch verkauft. Einzige Bedingung: Er möchte mit einem schwarzen Frack durch eine Szene laufen. Wie Alfred Hitchcock in vielen seiner Filme auftaucht. „Aber so lange, wie die mit der Verfilmung brauchen, so lange kann ich nicht mehr“, ist Gad Beck sich sicher. Der alte Mann fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Ein paar Monate gibt er sich noch und träumt von seinem Tod. „Wenn ich auf dem Sterbebett liege, werde ich noch einmal an alle meine Männer denken.“
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