: Von Zeichen und Wundern
SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Man geht Spiritualität und Normalität in Pop und Alltag auf den Grund
Der Geist von Sun Ra antwortet. In einer Séance mit dem Jazzmusiker empfangen die Journalisten von der Testcard seine Botschaften. Das klingt ungefähr so: Ist Lady Gaga im Jenseits bekannt? Yes. Magst du Lady Gaga? Yes. Mag Edgar Allan Poe Lady Gaga? No.
Transzendenz ist das Thema der aktuellen Testcard, das Titelbild der Zeitschrift gleicht einem Blick ins All. Die Autoren gehen allem auf den Grund, was im Pop spirituelle Dimensionen haben könnte. Der Göttlichkeit der Stars, den Obertönen von Moondog, kosmischen Noises von Sun Ra (ein Text des kürzlich verstorbenen Autors Tim Stüttgen). Am Ende ist klar: In der Welt des Pop geschehen noch Zeichen und Wunder.
Eines dieser Wunder ist das Lied „Get Lucky“ von Daft Punk. Das suggeriert zumindest die Zeitschrift Pop. Kultur & Kritik, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Gegenwartsphänomene zu besprechen, über die noch nicht genug geschrieben wurde. Mehrere Autoren der Zeitschrift wählen „Get Lucky“ als Einstieg für ihren Text. Ein anderes Wunder, das definitiv zum Alltag 3.0 gehören sollte, sind die HBO-Serien. Heinz Drügh feiert die „Sopranos“ und „The Wire“, Lars Koch analysiert „Homeland“ vor einer Derrida-Thoreau-Folie, und Robin Curtis schreibt so klug über „Girls“, dass man nicht ohne Duden auskommt (Viszeralität bedeutet: das die Eingeweide Betreffende).
Insgesamt beobachten die Autoren eine zunehmende Unaufgeregtheit in der Welt des Pop. Der Protagonist von Sterne-Sänger Frank Spilker sehnt sich sogar so sehr nach Normalität, dass er „Teil einer Modelleisenbahn sein will, in der die Züge immer im Kreis fahren“. Daraufhin ersetzen die Autoren das traditionelle Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll im Fazit durch Matratze, Buch und Plattenspieler. Ist das nun langweilig und prüde oder cool und souverän? Oder „normal“, wie Erkan und Stefan sagen würden?
Das Urteil „normal“ bedeutet so viel wie langweilig und beschränkt. Ein Dialog zwischen zwei identisch aussehenden Hühnern verdeutlicht das in der aktuellen Brand eins. Die Brand eins ist toll. Das beginnt mit dem ironischen Titel „Alle sind normal. Nur du nicht“, illustriert von einer zweibeinigen Karotte, die elegant auf Zehenspitzen posiert, und es endet damit, dass nicht nur Wirtschaftsfreaks die Zeitschrift lesen können, sondern auch normale Menschen. Aber zurück zu den Hühnern. Huhn 1 sagt: You’re weird. Huhn 2: You’re normal. Huhn 1: Take that back. Huhn 1 reagiert zeitgemäß. Die letzten Menschen, die Normalität schätzten, lebten in den 60ern. Nach dem Krieg lechzten sie nach Orientierung, schreibt Wolf Lotter. Rechtzeitig vor dem nächsten deutschen Einheitsbrei machten die 68ger Rabatz. Sie wollten Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll.
Jetzt könnten wir uns eigentlich mal wieder entspannen und die Normalität ein bisschen aufwerten, so ungefähr lautet der Tenor der Brand eins. Denn Orientierung kann jeder gut gebrauchen. Während sich die Menschen in den 70ern nach Vielfalt sehnten, sollte man sich heute erst gar nicht mehr danach sehnen müssen. Vielfalt und Andersartigkeit sollten normal geworden sein, genauso normal wie „Get Lucky“. Wenn das der neue Maßstab ist, dann ist doch eigentlich alles cool.
Dass die Normalität nicht überall so wundervoll ist, zeigt das Porträt über Gregor Demblin. Der Unternehmer ist seit einem Unfall vom fünften Halswirbel an abwärts gelähmt. Jetzt kämpft er gegen Klischees und für die Integration von Menschen mit Einschränkungen.
Auch in der Welt der inszenierten Normalität ist so einiges im Argen. Peter Laudenbach protokolliert ein paar Werber und fragt, warum die Leute in den Werbespots immer lachen, immer zwei Kinder haben, immer weiß sind. Normal ist das nicht. Aber austauschbar. Das zeigt die fahrradfahrende Familie, die erst in Quarkreklamen zu sehen war, und diesen Sommer gleichzeitig in den Wahlkampfwerbekampagnen der FDP und der NPD landete. Fazit: Die Welt ist dringend auf Wunder angewiesen. Geist von Sun Ra, bist du anwesend?
CATARINA VON WEDEMEYER
■ „Testcard“, Nr. 23, 15 Euro; „Pop. Kultur & Kritik“, Heft 3, Herbst 2013, 16,80 Euro; „Brandeins“, 11/2013, 8,50 Euro