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Archiv-Artikel

„Das Dorf ist das Ideal“

Eigene Welten bauen: Jedes Theater ist ein Mikrokosmos – manchmal ziehen die Schauspieler gar ihr eigenes Gemüse.Der Schriftsteller Steffen Kopetzky ist durch Indien gereist, um Theater und Tanzgruppen zur Biennale nach Bonn einzuladen

INTERVIEWKATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Herr Kopetzky, Sie sind Schriftsteller und Kurator der Biennale Bonn. Was verbindet das eine mit dem anderen?

Steffen Kopetzky: Ich bin ja auch Reiseschriftsteller. Reisen ist mein Thema und meine Arbeit. Als das Angebot vom Theater Bonn kam, schien mir das eine gute Möglichkeit, um mit Auftrag zu verreisen, was für mich die sinnvollste, erfüllendste und intensivste Art des Reisens ist.

Kannten Sie sich schon aus in der Theater- und Tanzszene Indiens?

Nein, ich war zuvor noch nie in Indien. Aber ich gehe überall gerne ins Theater, auch wenn ich afrikanische Länder oder Südamerika besuche. In Indien ins Theater zu finden, ist allerdings nicht ganz einfach. Die Traditionen von Tanz und Musik sind dominanter, und der Film ist natürlich sehr bedeutend. Theatergruppen führen eher ein bescheidenes Leben, und ihre Arbeiten sind nicht so leicht zu entdecken. Man muss akzeptieren, dass man erst mal nichts weiß. Dass man Führern vertraut und irgendwo hingeraten kann, wo einem nichts präsentiert wird, was man irgendwo zeigen könnte. Aber mit ein wenig Geduld stößt man dann eben doch auf Produktionen, die wunderbar sind und die außerhalb von Indien noch nie jemand gesehen hat.

Zurzeit hat hier der Bollywood-Film Konjunktur. Die Geschichten scheinen oft einfach, aber die Oberflächen sind sehr prächtig. Im Umgang mit fremder Kultur scheinen diese Filme einem fast die Erlaubnis zu erteilen, in oberflächlichen Reizen zu schwelgen. Ist das im Theater ähnlich?

Es gibt Produktionen, die mit einer stark visuell geprägten, bombastischen Inszenierung arbeiten, wie etwa Ratan Thiyams „Die letzte Glückseligkeit“ – das ist aber eher selten, weil dafür einfach die Mittel fehlen. Da gibt es kein Geld für 1.000 Statisten. Beim Theater liegt mehr Verantwortung beim einzelnen Schauspieler. Wir fanden die Ernsthaftigkeit faszinierend, mit der gespielt wird, als ob es um das Leben der einzelnen Beteiligten ginge.

Klaus Weise, der Intendant des Bonner Theaters, zählte fünf, sechs verschiedene Sprachen auf, aus denen die Produktionen kommen, die in Bonn mit Übertiteln gezeigt werden. Wie konnten Sie den Stücken vor Ort überhaupt folgen? Oder sprechen Sie all die Sprachen?

Nein, ich kann nur eine in Indien gesprochene Sprache: Englisch. Dass man vom Text zunächst einmal nichts versteht, gehört zu dem, was ich mit Frustrationstoleranz bezeichnen würde. Dabei achtet man natürlich automatisch mehr auf den Gesamteindruck, die Präsenz der Schauspieler, das Bild und so weiter. Wichtig ist natürlich auch immer das Publikum. Bei dem Stück „Agra Basar“ vom Naya Theatre, das ich in einem riesigen, bis auf den letzten Platz ausverkauften Theater in Delhi gesehen habe, erkannte man schon an den Reaktionen der Leute, dass es sehr witzige Dialoge sein müssen. In diesem Falle in Urdu. Die indische Theatertradition kommt vom Volkstheater und arbeitet mit einfachen Mitteln, viel Akrobatik, Komik, sehr drastisch. Das ist immer komödiantisch.

„Agra Basar“ von Habib Tanvir wird seit 1954 aufgeführt, das ist kaum vorstellbar.

Einige, die jetzt als alte Leute mitspielen, haben als Kinder in der Statisterie angefangen. Sie sind mit diesem Stück groß geworden. Ein Kern ist über die Jahre zusammengeblieben. „Agra Basar“ ist ihr berühmtestes Stück und das Erste, mit dem sie unterwegs waren. Habib Tanvir ist so jemand wie der Gerhard Hauptmann des indischen Theaters, ein Erfinder, der etwas zum ersten Mal probiert hat. Die Briten hatten Theater gebaut, die wollte man nach der Unabhängigkeit weiter bespielen, aber es fehlte an eigenen Stücken. Im indischen Theater gab es die Guckkastenbühne vorher nicht. Jetzt wurde darauf ein Stück Volkstheater probiert, der Marktplatz wurde auf die Bühne gesetzt.

Haben Sie eher nach populären oder avantgardistischen Positionen gesucht?

Wir haben recht unterschiedliche Projekte eingeladen. Die Regisseurin Anuradha Kapur aus Delhi mit ihrem Centaurenprojekt arbeitet mit einem Text von Heiner Müller, das kann man in unserem Sinn als avantgardistisch bezeichnen. Sie hat einen offenen Werkbegriff, geht mit ihren Mitteln sehr international um. Der Regisseur Rahul da Cunha aus Bombay macht Theater, hat aber auch eine Filmproduktionsfirma, die Ensemblemitglieder spielen in Filmen mit. Sein Stück „Pune Highway“ könnte fast ein Film sein: Das ist spannend, mit Superschauspielern. Die Geschichte basiert auf realen Vorgängen, da wurden auf dem Highway zwischen Bombay und Poona immer wieder Leute überfallen und drangsaliert. Das Szenario setzt nach einem Überfall ein. Davongekommene reden darüber, was passiert ist. Im Laufe des Stücks kommen Dinge ans Licht, die verborgen hätten bleiben sollen. Darüber werden drei Freunde zu Feinden. Das ist auch deshalb interessant, weil sowohl in unserem Bild von Indien, als auch in dem Bild, das Indien von sich selber hat, das mafiose, großstädtische, gefährliche Indien wenig gesehen wird.

Stimmt. Indische Krimis kennt man weniger.

Dabei ist die Mafia in Bombay legendär. Das Stück „16 Millimeter“ der Gruppe Spandan aus Kalkutta ist sehr ungewöhnlich arbeitendes politisches Dokumentartheater. Und „16 Millimeter“ ist ein Stück über politische Intrigen, einen Anschlag auf das indische Parlament, der tatsächlich stattgefunden hat.

Ein Grund, sich gegenwärtig mit Indien zu beschäftigen, ist die gewachsene wirtschaftliche Bedeutung und die rasante technologische Entwicklung des Landes. Gleichzeitig ist es uns immer noch sehr fremd. Klaus Weise, der Intendant, hat das folgendermaßen formuliert: „Wir haben Indien nötiger als Indien uns.“

Indien ist in unwahrscheinlichem Aufbruch. In Delhi gibt es irrsinnige Baustellen der U-Bahn, überall werden Industrieparks aus dem Boden gestampft. Man bekommt mit, dass viele Fernsehkanäle gegründet werden, 90 inzwischen, man sieht die Werbung überall. Man sieht Konsumtempel und wie eine neue Infrastruktur neben ausgedehnten Slumgebieten hochgezogen wird, ein unglaubliches Nebeneinander. Wenn man hierzulande von den dortigen Wachstumsraten liest, ist das beeindruckend; vor Ort wird einem klar, wo das herkommt. Wo nichts ist, kann man viel Neues gründen.

Sie haben die indische Gesellschaft als leeren, zugigen Raum beschrieben. Warum?

Es gibt den Staat nicht in unserem Verständnis. Es gibt die Regierung, Parteien an der Macht, die zwar versuchen, für die Gesamtheit etwas zu tun. Letztlich aber ist jede Institution für sich selbst eine Art von Miniwelt. Unter dem Staat als Ganzes kann man sich nichts vorstellen – aber die Eisenbahn als riesiger Arbeitgeber, oder die Polizei, die unter Korruption leidet, das ist jedes Mal eine Welt für sich, und jede Institution versucht für sich durchzukommen. Jeder Beamte kreiert seine eigene Welt, hat sein eigenes Tempo.

Die meisten der eingeladenen Theater-, Musik- und Tanzgruppen werden ja nicht öffentlich gefördert, sondern von Familien getragen. Selbst die Dramatic Art & Design Academy in Delhi ist privat. Wie ist das entstanden?

Wenn man Theater spielen will und es keine öffentlichen Theater gibt, wie soll das sonst funktionieren? Irgendwer muss das Geld haben. Die Künstler, die heute aktiv sind, kommen meist aus Familien, die schon seit vielen Generationen in der Kunst tätig sind. Teilweise sind die Mitglieder einer Familie über mehrere Kontinente verstreut, und die Familie trommelt sie für ein Projekt zusammen.

Gewisse Gruppen wie die fantastischen Adishakti sind nicht so groß, die tragen sich. Adishakti leben in der Nähe von Pondicherry an der Küste des indischen Ozeans. In Pondicherry, einer ehemaligen französischen Enklave, war das Exil des Philosophen Sri Aurobindo, der vor der Unabhängigkeit Indiens einer der meist gesuchten Männer war. Der hat dort seine erste Kolonie gegründet. Die Adishaktis sind beeinflusst von Aurobindo und seiner spirituellen Gefährtin Mother. Da hat Adishakti Grund erworben und eine Gemeinschaft gegründet mit Wohn- und Gästehäusern, in ausgedehnten Gärten, wo das eigene Gemüse angebaut wird: selbstverständlich leben sie streng vegetarisch.

Ist das Theater also auch ein sozialer Schutzraum, der fehlende Solidarität in der Gesellschaft ersetzt?

Die Vorstellung, dass jeder Mensch dahin gehört, wo er geboren wird, ist noch immer existent. Wer reich geboren wird, hat das verdient; wer arm geboren wird, auch. Die Aufgabe ist dann für beide gleich, nämlich ein anständiges Leben zu führen. Durch die neue Mittelklasse, die jetzt im Technologiesektor entsteht und ganz andere Dynamiken des sozialen Aufstieges erfährt, ändert sich das – aber es gibt noch kein wirkliches Modell von Solidarität. Am Armen geht man vorbei, sonst kann man psychisch nicht überleben. Wenn jetzt jemand beginnt, Theater oder Tanz machen zu wollen, kommt er nicht umhin, sich von dieser Welt ein Stück einzufrieden, und wenn er Nachwuchs will, muss er den selber ausbilden – er muss immer wieder einen Kosmos erschaffen. Letztlich ist doch das Dorf das Ideal.

Die eingeladenen Projekte kommen aus unterschiedlichen Zentren aus und um Delhi, Bombay, Kalkutta und Bangalore. Spiegeln sich da unterschiedliche Kulturen in den Theaterstücken?

Bangalore und Chennai, der Süden allgemein, ist etwas konservativer, da wird mehr Wert auf die Tradition gelegt. Die klassischen Tanzproduktionen kommen von dort. Bombay ist die Finanzstadt und das Zentrum der Filmindustrie, da leben mehr Millionäre als in Manhattan – und die Produktionen von dort sind sehr tough. Kalkutta versteht sich als das intellektuelle Zentrum, neben dem schon erwähnten „16 Millimeter“ kommt das Stück „Chokh Gyalo“ von dort, „Die Hexe“: ein Stück über den Aberglauben auf dem Land und die Ausgrenzung von Frauen. Das sind sehr diskursive, um Analyse und Reflexion bemühte Stücke. Solche Zuschreibungen stimmen natürlich nur zum Teil, aber auffällig ist schon die große Unterschiedlichkeit der Szenen.

Biennale Bonn, 13. bis 21. Mai, 12 Theatergruppen, 5 Tanzproduktionen,Konzerte, Lesungen, Ausstellungen.Infos unter www.biennalebonn.de