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Archiv-Artikel

„Mit 17 denkt man nicht ans Sterben“

Vera Friedländer

„Es gibt nichts von den Verschleppten. Keine Stelle, wo sie begraben sind, keinen Gedenkstein. Nichts. Sie sind einfach verschwunden. Mit den Stolpersteinen ist ein Stück Erinnerung gegeben“

Vor zehn Jahren hat der Künstler Günter Demnig die ersten Stolpersteine im Berliner Pflaster verlegt. Die mit Messing ummantelten Pflastersteine – mittlerweile allein in Berlin über tausend – liegen vor den Häusern, in denen Menschen, die von den Nazis verschleppt wurden, zuletzt wohnten. Vera Friedländer, deren Mutter Jüdin und deren Vater kein Jude war, hat in Berlin überlebt. Nicht so die meisten Mitglieder ihrer großen jüdischen Familie. Die 78-jährige ehemalige Professorin an der Humboldt-Universität, Autorin mehrerer Bücher und Gründerin der Friedländer Sprachschule hat bisher 17 Stolpersteine verlegen lassen. Einer kommt noch hinzu

Interview WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Friedländer, haben Sie Ihren verschleppten Cousin Gerhard Friedländer in Israel doch noch gefunden?

Vera Friedländer: Nein. Ich fand Menschen, von denen ich dachte, der oder der könnte es sein. Aber sie waren es nie.

Haben Sie für ihn einen Stolperstein im Berliner Trottoir verlegen lassen?

Ja, im letzten Jahr.

War das der Moment, in dem Sie die Hoffnung aufgaben?

Ich habe lange gehofft, dass sich dieser und jener noch meldet. Meine Mutter und ich haben nach dem Krieg die Deportationslisten durchgesehen. Wer wurde befreit? Wer hat überlebt? Wer ist tot? Da waren aber nicht viele aus unserer Familie aufgeführt. Von den meisten wissen wir nicht, wann und wo sie umgekommen sind. Ich weiß nur, es gibt sie nicht mehr.

Warum weiß man das?

Sie hätten sich gemeldet. Von Gerhard, dem Neunjährigen, der später in Israel vermutet wurde, hatte eine Großmutter überlebt, die mit einem Nichtjuden verheiratet war. Ihre Adresse war gleich geblieben. An den Trümmern des Hauses, in dem wir wohnten, war lange noch unsere Adresse eingeritzt. Aber wie sollten die Kinder überlebt haben? Sie sind mit den Müttern deportiert worden und kamen meist sofort ins Gas. Die Mutter Gerhards und seine kleine Schwester sind in Auschwitz ermordet worden. Der Junge muss bei ihnen gewesen sein.

Haben Sie nach der Wende auch im Berliner Landesarchiv, wo die Unterlagen von Berliner Behörden liegen, nach Hinweisen gesucht?

Sicher. Im Landesarchiv die Dokumente zu sichten, war nicht leicht für mich. Da liegen Formulare, auf denen steht, was die Verschleppten besessen haben. Von einigen ist es das Einzige, was an Schriftlichem geblieben ist. Man hat sie alles aufschreiben lassen, acht, zehn Seiten lang, und dann hat man sie umgebracht.

Auf den Stolpersteinen sind die Namen, Geburts- und Sterbedaten, soweit bekannt, eingeritzt. Haben Sie für alle Ihre verschleppten Familienangehörigen Steine verlegen lassen?

Für alle, bei denen die Adresse klar war. Einige waren nach Frankreich emigriert und eine Tante ist mit ihrem Baby von Nizza aus doch deportiert worden.

Warum haben Sie Stolpersteine verlegen lassen?

Es gibt nichts von den Verschleppten. Keine Stelle, wo sie begraben sind, keinen Gedenkstein. Nichts. Sie sind einfach verschwunden. Mit den Stolpersteinen ist ein Stück Erinnerung gegeben. Sie liegen da, wo sie zuletzt gewohnt haben. Durch die Stolpersteine ist etwas von ihnen geblieben. Ein Hinweis auf ihr Leben.

Jetzt jährt sich die Stolpersteinaktion, die vom Künstler Günter Demnig initiiert wurde, zum zehnten Mal …

… als ich zum ersten Mal davon hörte, war ich sofort dafür. Ich habe mich in Kreuzberg gemeldet, weil ich zuallererst an meine Großmutter und ihre Tochter gedacht habe, die in der Naunynstraße wohnten.

17 Steine für Verschleppte aus Ihrer Familie liegen auf Berlins Straßen. Für wen ist der 18., der noch kommt?

Für eine alte Frau, die mit 80 Jahren nach Theresienstadt kam. Im Jüdischen Museum gibt es eine Vitrine mit Dokumenten aus Schanghai. Das Material dort ist von unserer Familie. Darunter ist ein Brief von ihr. In dem schreibt sie: Da ist noch eine Decke, die könnt ihr dem und dem geben, und dergleichen. Sie wusste ihren Deportationstermin.

Machen Sie manchmal Umwege, um an den Steinen vorbeizugehen?

Ja. Wenn Besuch da ist, gehen wir hin. An schönen Wochenenden auch manchmal – nicht bloß ich, auch meine Kinder.

Wie ist es, wenn Sie darüber laufen?

Man soll ja über die Stolpersteine hinweggehen. Sie wissen, es gibt viele Juden, die finden das deshalb nicht so gut. Sie sagen: Dann trampeln sie auf uns herum. Man soll aber darüber hinweglaufen, damit das Messing blank bleibt.

Eine schöne Symbolik: Die Erinnerung soll nicht stumpf werden. Verblasst sie denn jemals?

Es waren so ungewöhnliche und so schreckliche Dinge, das vergisst man nicht. Ich kann heute noch die Wohnung meiner Großmutter genau aufzeichnen. Ich sehe auch noch vor mir, wie wir eine Familie am Bahnhof verabschiedet haben. Ich spüre unsere Ängste von damals, die Ungewissheit, höre, was wir sagen: Die sehen aus wie flüchtende Juden. Jeder wird sie erkennen. Solche Bilder wird man nicht los.

Sie und Ihre Mutter blieben in Berlin. Sie haben sich auch nie versteckt.

Ich musste Zwangsarbeit leisten. Erst in den letzten Tagen des Krieges bin ich zu Hause geblieben. Bei dem Chaos hat niemand mehr nach mir gesucht.

Warum wurde Ihre Mutter nie zur Zwangsarbeit gezwungen?

Bis zuletzt hat niemand etwas von ihr gewollt. Ich habe nur diese Erklärung dafür: Meine Mutter kam eines Tages vom Arbeitsamt für Juden in der Sonnenallee. Das ist heute immer noch ein Arbeitsamt. Sie kam nach Hause und meinte, die Beamtin habe gesagt: Ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Dieser Satz war für meine Mutter der Strohhalm, an dem sie sich festhielt. Jahre nach dem Krieg habe ich erfahren, dass dort im Arbeitsamt Antifaschisten aktiv waren. Die haben Unterlagen von Juden verschwinden lassen. Bestimmt auch jene meiner Mutter.

Ihr Vater wurde dagegen interniert.

Er kam in ein von SS bewachtes Lager bei Merseburg. Man hat die Männer, die mit Jüdinnen verheiratet waren, unter Druck gesetzt: Entweder Scheidung oder Lager. Die meisten gingen ins Lager und wollten so ihre Familien schützen.

Waren Sie dadurch nicht ungeschützter?

Nein. Solange die sogenannte Mischehe bestand, war ein gewisser Schutz da. Das glaubten wir zumindest. Nach der Fabrikaktion, bei der die Juden und Jüdinnen aus den Fabriken und Wohnungen geholt worden waren, wurden auch die in Mischehen lebenden jüdischen Partner in verschiedene Sammellager gebracht. Sie sollten ebenfalls deportiert werden. In der Rosenstraße standen damals die Frauen und riefen, man solle ihnen die Männer wiedergeben. Ich habe mit meinem Vater einen Tag lang in der Großen Hamburger Straße auf meine Mutter gewartet. Die Proteste haben Aufsehen erregt. Deshalb wurde die Deportation der mit Nichtjuden Verheirateten erst einmal gestoppt. Nicht zuletzt wohl auch, weil es weite Kreise betroffen hat bis in die Spitze der Nazis und des Militärs …

da es dort auch Mischehen gab?

So jedenfalls ist es von uns damals aufgenommen worden. Aber eineinhalb Jahre später haben sie diese Ehen doch angegriffen, indem sie von den nichtjüdischen Partnern und Partnerinnen die Scheidung verlangten. Das bedeutete die sofortige Deportation der jüdischen Ehefrauen und -männer und deren Kinder. Mich hätten sie jederzeit holen können. Ich war tagsüber ghettoisiert bei Salamander, wo ich Zwangsarbeit leistete. Obwohl, das muss ich sagen, ich ließ es nicht an mich herankommen, dass Deportation Vernichtung bedeutet. Meine Mutter hat es dagegen verstanden.

Auf der anderen Seite hat Ihre Mutter verhindert, dass Sie mit ihr in den Untergrund gingen.

Sie meinte, das können wir nicht machen. Mein Vater würde das Lager nicht durchstehen, wenn wir für ihn nicht mehr erreichbar wären. Sie glaubte, wir müssen unsere Adresse halten. Wir haben ihm immer geschrieben, es sei alles in bester Ordnung. Er hat überlebt.

Mehr als 30 Jahre nach dem Krieg haben Sie die Geschichte Ihrer Verfolgung aufgeschrieben. Im Buch entsteht der Eindruck, dass Sie immer wussten, Sie würden überleben.

Dafür war ich jung genug. Ich war 17, als der Krieg zu Ende war. Mit 17 denkt man nicht ans Sterben.

Zudem strahlt Ihr Buch was Versöhnliches aus. Neben den Leuten, die Ihnen Böses wollten, tauchen solche auf, die als Menschen handelten. Der Schuldirektor, die Lehrerin, der Nazi, der über Ihnen wohnte …

Der hatte Angst um die Zukunft seiner Kinder. Er wollte sich ihretwegen rückversichern. Es war ihm wohl klar, dass die Nazizeit zu Ende geht.

Sie selbst hielten sich bedeckt. Wussten Ihre Freundinnen, dass Sie Jüdin sind?

Nur eine ahnte es. Später habe ich sie gefragt: Wieso bist du darauf gekommen? Sie meinte: Mein Vater sagte mir, schau den Leuten in die Augen. In deinen Augen war Angst.

Wie geht man mit solchen Erfahrungen wie den Ihren um?

Man wird nie damit fertig. Wenn ich an einem Haus vorbeikomme, in dem Verwandte lebten, gucke ich unwillkürlich rauf zur Etage, wo sie wohnten. Als müsste gleich jemand aus dem Fenster schauen. In der Naunynstraße wiederum sehe ich immer den Lastwagen, der mit meiner Großmutter um die Ecke bog. Wenn ich an bestimmte Dinge denke, sind sie ganz direkt vor mir. Und heute das Geschrei der Neonazis – wenn ich es höre, glaube ich mich zurückversetzt in die Vergangenheit. Ich kann das rein körperlich nicht ertragen.

Verdrängen geht nicht?

Auf lange Sicht nicht.

Wie war es nach dem Krieg?

Ich war lernbegierig. Die Nazis erlaubten mir nur die Volksschule, aber illegal war ich noch auf der Handelsschule. Als 1946 die Vorstudienanstalt eröffnet wurde, war mir klar: Die ist für Leute wie mich. Man hat in drei Semestern nicht gerade die Ausbildung bekommen, die man für eine Universität braucht. 1948 im Frühjahr hab ich dort Abitur gemacht, im Herbst geheiratet. Aber mein Mann und ich mussten erst sehen, dass wir satt werden. Deshalb gingen wir arbeiten. Als wir satt waren, zwei Jahre später, hat mein Mann gesagt, ich fange noch mal an. Da wollte ich nicht zurückstecken und habe ab 1951 Germanistik studiert, war danach eine Zeit lang Verlagslektorin und bin 1960 wieder an die Universität zurückgegangen.

In jener Zeit ist die Vergangenheit weggerückt?

Ja, mit dem Beruf, mit der Familie, wir haben drei Kinder aufgezogen. Über die Vergangenheit hab ich wenig gesprochen. Ich habe meinem Mann und meinen Kindern erklärt, wo ich herkomme und wo sie selbst herkommen, aber mehr nicht.

Ihre Familie hat die Hintergründe also erst durch das Buch erfahren?

So war es. Mein Mann hat immer wieder gesagt: Du musst das aufschreiben. Was meinen Sie, was das für eine schwere Sache war, das Buch dann zu schreiben. Das liest sich vielleicht leicht, aber ich habe wahnsinnig viel geheult dabei.

Aktivitätenforum und Festakt zu „10 Jahre Stolpersteine“ am 17. 5. ab 16 Uhr in der Carl-von-Ossietzky-Oberschule, Blücherstraße 46/47, Infos unter: (0 30) 2 63 98 90 14