: Eine Welt zu Gast in Dahlem
Im Sammelband „Berlin Hüttenweg“ flanieren internationale Autoren als literarische Gastbeobachter durch Musikbars, Nobelboutiquen und DDR-Gästehäuser der Stadt
Die Kunst der Stadtbeobachtung beherrscht man, wenn man das eigentlich Vertraute mit den Augen eines Fremden ansehen kann. Was dem ethnologischen Stadtforscher einige Übung abverlangt, das lässt sich jetzt fast gratis haben. Gleich vierzehn Autoren aus aller Welt haben für den Band „Berlin Hüttenweg. Stadt erzählen“ Texte geschrieben, die mehr oder weniger eng um und über Berlin kreisen. Entstehen soll auf diese Weise ein Bild der Metropole, das sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven zusammensetzt.
Anlass für diese Berlin-Anthologie ist die Samuel-Fischer-Gastprofessur – in deren Rahmen unterrichten internationale Schriftsteller und Dichter jeweils ein Semester an der FU. Anders als man es von der klassischen Poetik-Dozentur kennt, stehen hier aber nicht die methodischen Fragen des Schreibens im Vordergrund. In frei wählbaren Formaten geht es um die Literatur der Herkunftsländer der Lehrenden. Die Texte, die diese in Berlin zurückgelassen haben, sind deshalb auch keine poetologischen oder programmatischen: Es sind Geschichten, Gedichte oder einfach nur Berichte, mit denen die Herausgeber ein Stück der Internationalität aufbewahren wollen, die die Studenten seit 1998 erleben konnten. Vielfältig sind die Texte allemal, wenn auch nicht immer gleichermaßen aufregend.
Viele Beiträge sind so stark an den Kontext der Gastprofessur gebunden, dass sie nicht nur wenig Neues über die Stadt erzählen. Eher sind sie freundliche Grußbotschaften oder Selbstzeugnisse, die sich um Anschluss an Berlin bemühen. Der knappe Bericht, den Yann Martel über seine „Berliner Monate“ gibt, gehört dazu oder das Feinnervigkeit zelebrierende „Berliner Tagebuch“ des afrikanischen Dichters V. Y. Mudimbe. Scott Bradfield immerhin erzählt die skurrile Geschichte vom Mischlingsrüden Dazzle, der zu seiner Überraschung an die Universität berufen wird. Und Michèle Métail steuert eine schöne Berlin-Flanerie bei.
In einer ganz anderen Liga spielt da die melancholische Erzählung „Vallejo“ des nicaraguanischen Schriftstellers Sergio Ramírez. Sie handelt vom Leben südamerikanischer Emigranten im Westberlin der 70er Jahre – nachts zieht man mit einer Combo durch Bars, um ein bisschen Geld zu verdienen, tagsüber wird vom großen Durchbruch auf Berlins Opernbühnen geträumt, der einen in der Heimat zum Volkshelden machen würde. Das Berlin, von dem Ramírez schreibt, hat etwas wunderbar Provisorisches. Und es ist ein Ort der Einsamkeit. Nicht nur für diejenigen, die fern von zu Hause im kalten Berliner Winter frösteln. Hinter erleuchteten Fenstern verbergen sich Großstadtbewohner, die unbemerkt sterben und nur durch das Licht, das sie nicht mehr ausschalten können, ein stummes Signal auf die Straße senden. Von Einsamkeit erzählt auch die Österreicherin Marlene Streeruwitz. In den verwaisten Räumen des DDR-Gästehauses im Pankower Majakowskiring trauert die namenlose Erzählerin über das Ende einer Liebesbeziehung. Draußen die brütende Mittagshitze. Ein kaum zu ertragender Stillstand, der die Utopielosigkeit nach dem Fall der Mauer ins Bild setzt.
Aber nicht alle Texte sind so melancholisch. Dafür bürgt schon Wladimir Kaminer, der zwar keine Poetikvorlesung gehalten, aber trotzdem im Sinne des Internationalismus etwas beisteuern durfte. Oder Feridun Zaimoglu, der über dieses ganz spezielle Berliner Wintergefühl berichtet, das einen ereilt, wenn man sich als Mietweihnachtsmann in Westberliner Nobelboutiquen schikanieren lassen muss, um dann noch von Horden wild gewordener Kapitalismusgegner gelyncht zu werden. Das unterscheidet sich zwar nicht unbedingt von der leicht konsumierbaren Berlin-Prosa, wie man sie allwöchentlich auf den Lesebühnen der Stadt serviert bekommt. Aber es passt zum Titel der Vorlesung, die Zaimoglu im Sommersemester 2004 gehalten hat: „Literature to go“.
Vielleicht sind es in „Berlin Hüttenweg“ aber auch gar nicht die Texte, die das Besondere ausmachen: Viel spannender nämlich lesen sich die angehängten Autorenbiografien. Sie erzählen von Kunstschaffenden, die den Blick immer wieder neu auf die eigenen und die fremden kulturellen Zusammenhänge richten und auf diese Weise die kritische Reflexion der Gegenwart am Laufen halten. Es lohnt sich deshalb, nicht nur auf die Fortsetzung von „Berlin Hüttenweg“ zu warten. Auch sollte man den Veranstaltungskalender sondieren. Denn die Samuel-Fischer-Gastprofessur soll auch in den kommenden Jahren fortgesetzt werden. Globalisierung pur. Die Welt zu Gast in Dahlem und – fast – zum Anfassen. WIEBKE POROMBKA
Oliver Lubrich/Hans Jürgen Balmes (Hg.): „Berlin Hüttenweg. Stadt erzählen“. Matthes & Seitz, Berlin 2006, 288 Seiten, 18,80 EuroBuchvorstellung mit den Herausgebern heute, 20.30 Uhr, bei Matthes & Seitz, Göhrener Str. 7, Prenzlauer Berg