nicht mit dem käsemesser! von JOACHIM SCHULZ :
Genauestens ist man seit Doktor Freuds Forschungen über die heikle Delikatesse orientiert, die dem Verhältnis von Vater und Sohn innewohnt: Kaum ist der Junge aus dem Gröbsten raus, wünscht er sich insgeheim nichts sehnlicher, als seinen alten Herrn nach König Ödipus‘ Vorbild hinterhältig niederzumeucheln.
Noch lebensgefährlicher als die Konfrontation mit dem eigenen Vater ist allerdings eine Situation, in die man ein paar Jahre später gerät, wenn man sich erstmals unsterblich verliebt hat und dem Vater seiner Angebeteten gegenübersteht. Hier freilich ist es nicht mehr der junge Liebhaber, der über Abmurkspläne nachsinnt; stattdessen ergreift die Mordlust von dem Alten Besitz, und das pflegt sie leider mit einer derart überwältigenden Macht zu tun, dass ich mich noch heute darüber wundere, wie wenig junge Spunde eines unnatürlichen Todes sterben.
Meine erste Liebe hieß Julia, und ihr Vater war bei der Post. Er hatte als Briefträger angefangen, diente sich langsam die Karriereleiter hoch und wäre heute sicher Postminister, wenn es diesen Job noch gäbe. Als er von meiner Existenz erfuhr, ordnete er an, dass ich an einem familiären Abendbrot teilnehmen solle. Julia führte mich an den Tisch, auf dem ein kolossales Stück Käse sowie Brot und Butter standen. „Brot, Käse, Butter – mehr braucht der Mensch nicht zum Leben!“, hob er zu einem ernährungswissenschaftlichen Vortrag an, während er zu essen begann. Als ich mir gleichfalls Brot und Butter nahm, verstummte er. Schlagartig herrschte eine eisige Stimmung am Tisch: In Julias Augen sah ich Panik, im Gesicht ihrer Mutter Fassungslosigkeit, im Blick ihres Vaters blanken Hass. „Schnell!“, flüsterte Julia: „Du musst weg!“ Sie zog mich hastig fort, während ich in der Faust ihres Vaters etwas Glänzendes aufblitzen sah und ihre Mutter rief: „Edgar, mach dich nicht unglücklich! Schon gar nicht mit dem Käsemesser!“
Als wir uns nach draußen geflüchtet hatten, erklärte mir Julia, dass ihr Vater es nicht ertragen könne, wenn man die Butter von einer zweiten Seite anschneide. „Er glaubt, das bringt Unglück“, sagte sie: „Allerdings habe ich noch nie erlebt, dass er deswegen zum Messer greift.“ Vielleicht aber habe ich ja tatsächlich die Schuld daran, dass es mittlerweile keinen Postminister mehr gibt.
Der Käsephilosoph blieb nicht der Einzige, der mir an den Kragen wollte. Andere Väter von anderen jungen Frauen taten es ihm in den folgenden Jahren gleich: Mal wurde ich von einem versehentlich nicht richtig angeleinten Schäferhund gehetzt, mal wurde ich fast von einem plötzlich herunterkrachenden Kronleuchter erschlagen, und einmal holte ich mir als einziger Gast auf einem Geburtstagsgrillfest eine Fleischvergiftung, die mich ein paar Tage lang im Grenzbereich von Dies- und Jenseits herumschweben ließ.
Es ist deshalb gut, dass sich die Mordgelüste von Vätern mit fortschreitendem Alter gänzlich verlieren. Mit dem alten Herrn meiner jetzigen Liebsten verbindet mich sogar eine regelrechte Freundschaft – und das liegt unter anderem auch daran, dass er noch nie versucht hat, mich bei einem Spaziergang vor einen heranbrausenden Dreißigtonner zu schubsen.