: Das sichtbare Zeichen der Lüge
BEYOND OBAMA Der US-amerikanische Präsident und das sprudelnde Öl im Golf von Mexiko – gegen die Ausbeutung ohne Wissen wächst der Protest
VON CORD RIECHELMANN
BP hat an Pfingsten verlautbaren lassen, dass das unkontrolliert aus einem explodierten Bohrloch der Firma in den Golf von Mexiko strömende Öl zu einer „Katastrophe“ geführt habe. Also eine „Wende zum Niedergang“ eingeleitet hat, auf den ein Zusammenbruch folgt. So jedenfalls lässt sich das Wort Katastrophe aus dem Griechischen im Kontext der Ölpest übersetzen. Dezenterweise gab der BP-Sprecher keinen direkten Hinweis, wer in der Golfregion jetzt genau niedergeht und was zusammenbricht. BP wird es auf keinen Fall sein.
Der Konzern hat im ersten Quartal dieses Jahres bereits einen Gewinn von 5,6 Milliarden US-Dollar aus seinen Geschäften gezogen, im letzten Jahr waren es insgesamt an die 17 Milliarden US-Dollar. Damit lassen sich auch Kosten von 2 bis 3 Milliarden US-Dollar wegen der Ölpest im Golf verkraften (bisherige Kosten für BP: zirka 800 Millionen US-Dollar).
Nach Maßgabe der ökonomischen Vernunft hat BP damit alles richtig gemacht. Vernünftig zu sein heißt nämlich im Reich der Wirtschaft vor allem, auf seinen Profit zu achten. Das hat BP exzellent getan, das Unternehmen befindet sich in keiner Krise. Bis zur Explosion der Bohrinsel „Deepwater Horizon“ Ende April lief alles nach Plan.
Erst einen Monat zuvor hatte US-Präsident Obama angekündigt, neue Lizenzen für Tiefseebohrungen vor den Küsten der USA, im Golf von Mexiko und weit oben im Eis, nördlich von Alaska, freizugeben. Dass sich daraufhin Umweltschützer, Ökologen und Meeresbiologen meldeten, um gegen die unbedachten Maßnahmen zu protestieren, ging zumindest in Europa weitgehend unter und hat auch das Medienbild Obamas kaum beeinträchtigt. Und damit kommt man zu einem Aspekt der Ölgeschichte vom Golf, die etwas schwieriger zu handhaben ist, als die Firmenbilanzen von BP: nämlich zur Politik Obamas.
Es gibt in Obamas Politik eine reibungslose Kontinuität zur Bush-Administration, und das ist seine Kungelei mit der Ölindustrie. Während aber jeder Bush mit „Big Oil“, den alten Ölkonzernen, verbindet, und sei es nur, weil seine Familiengeschichte und die Ideologiegeschichte der Republikaner ihn als dafür befähigt ausweisen, tat dies mit Obama bis zur Bohrlochhavarie kaum jemand. Und das ist nun auf einmal anders.
Für Obama ist das weitaus problematischer als für BP. Zeigt die Katastrophe doch eindeutig, das er sich in zwei unvereinbaren Konsensformationen bewegt. Sein Konsens mit der Ölindustrie, der nicht nur neue Bohrlizenzen in ökologisch äußerst kritischen Regionen wie dem Eismeer hinter Alaska vorsah, sondern „Big Oil“ auch auf sie zugeschnittene neue Energiegesetze lieferte, suspendiert seine Wahlversprechen. Der Präsident aller Amerikaner wollte Obama viel mehr sein, als Bush es je war. Für die amerikanischen Fischer und die kleinen und großen Tourismusunternehmer genauso wie für die zahlreichen amtlichen und ehrenamtlichen Umweltschützer an der gesamten Golfküste der USA sieht das jetzt aber anders aus. Obamas Wahlkampfschlachtruf „Yes, we can“ verwandelt sich angesichts der rötlich schimmernden Ölschlieren an den Küsten Louisianas und der dort ölverklebt verendenden Pelikane in ein eindeutiges: „Wir haben von Tuten und Blasen keine Ahnung.“
Für die lokal Betroffenen ist das unübersehbar. Die Reaktionen in den traditionell eher republikanisch wählenden Golfanrainerstaaten von Texas bis Florida sind entsprechend. Die Fischer, die kleinen Delfinbeobachtungstourunternehmer oder die traditionell gut organisierten Ornithologen laufen nicht zu den Republikanern über, sie sammeln sich jetzt außerhalb der Washingtoner Parteioligarchien. Sie wissen ganz genau, das auch die Republikaner an der Ölpolitik Obamas nichts ändern werden. Sarah Palin, die derzeitige Medien-Gallionsfigur der Republikaner, hat auch sofort, sehr gut gelaunt, im Nachrichtenfernsehen mitgeteilt, dass sie Tiefseebohrungen super findet und auch weiterhin für deren forcierte Anwendung ist. Wer nicht auf See bohren wolle, müsse dies eben an Land tun. Im „Arctic National Wildlife Refuge“ zum Beispiel. Das arktische Naturschutzgebiet ist für die amerikanische Naturschutzpolitik so etwas wie ein Heiligtum. Es gehört zu jenen Gebieten, die nicht einmal Bush für industrielle Nutzungen wie Holzeinschlag oder Bodenschatzsuche geöffnet hat, was seine Regierung sonst in großem Umfang in anderen Naturreservaten tat.
Die Reaktion auf die Alternativlosigkeit des offiziellen Parteienamerika, das in diesem Punkt ein hervorragendes Beispiel für den „Kapitalparlamentarismus“ (Alain Badiou) liefert, hat in den USA aber bereits eine Bewegung hervorgebracht, die sich unabhängig von Parteien und Staat organisiert. Das sie zu einer Macht geworden ist, ist einer der Gründe, warum Obama und seine Regierungsvertreter andauernd hektisch nach Louisiana reisen, um von Öl viel zu reden und wenig zu tun. Wie bedrohlich die gern als „Tea Party“- Bewegung Verunglimpften für das Establishment geworden sind, kann man einem Text von Mark Lilla in der New York Review of Books vom 27. Mai entnehmen. Lilla, der in New York als Professor die Geschichte der westlichen Denksysteme untersucht und lehrt, ist der zurzeit bedeutendste Intellektuelle des klassisch amerikanischen Liberalismus. Für Lilla sind die Tea-Party-Leute schlicht Jakobiner, also eine Wiederholung der Radikalen der Französischen Revolution, und nichts anderes als ein libertärer Mob, schreibt er. Und vor diesem Mob fürchtet sich auch Obama, weil er nichts anderes ist, als das sichtbare Zeichen der Lüge seines Versprechens von einem Amerika für alle.
Dass wir uns auf dem Mond besser auskennen als in der Tiefsee, ist unter Meeresbiologen ein stehender Witz. Etwas davon kommt in den Medienberichten zum Ausdruck, etwa wenn der Versuch, den Bohrlochschaden zu beheben, mit der Rettung des „Apollo 13“-Raumschiffs verglichen wird, das 1970 auf dem Flug zum Mond verunglückte. Der Vergleich ist Blödsinn, weil er die erheblichen Unterschiede zwischen Mond- und Tiefseeforschung völlig verkennt. Die Milliardenprogramme für die Raumfahrt sind in gar nichts zu vergleichen mit den Peanuts, die für Meeresbiologie und -ökologie bereit gestellt werden. Die Ausbeutung des Öls am Meeresgrund erfolgt ohne auch nur den Hauch des notwendigsten Wissens über die Zusammenhänge da unten und dann auch etwas weiter oben an den Küsten und angrenzenden Sümpfen in der Region. Das heißt, zur einseitigen Kungelei mit den Ölgesellschaften kommt noch eine über Jahrzehnte verfehlte Forschungspolitik, an der auch der sogenannte Ökoboom nichts geändert hat.
Im Golf von Mexiko sind die Ausmaße der Wirkungen und Nachwirkungen außerhalb aller bisher bekannten Öltankerkatastrophen und kleinen „natürlichen“ Ölausschüttungen. Dennoch fahren die Ölgesellschaften der Welt unbeirrt mit der Verwandlung von Öl in Geld fort. So hat Hugo Chávez, Präsident Venezuelas, gerade ein Milliardenprogramm zur Steigerung der Ölproduktion am Orinoko angekündigt. Und BP berichtet sehr optimistisch vom weiteren Ausbau ihrer Offshore-Ölgewinnung. Für eine Firma, die jahrelang mit dem Slogan „Beyond Petroleum“ (also: „Nach oder jenseits des Öls“) geworben hat, ist das offenbar kein Widerspruch.
Warum das so ist, ergibt sich aus den Maximen des ökonomischen Denkens, nach dem das Leben nur im Sinne von wirtschaftlichen Erfolg oder Fehlschlag beurteilt wird. Eine andere Beurteilung des Lebens vorzunehmen, gehört zu den Forderungen des sich formierenden Widerstands von Texas bis Louisiana. Neu daran ist, dass sehr viele dort wissen, dass sie das im Moment ohne oder gar gegen „ihre“ Regierung machen müssen.