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Archiv-Artikel

Durst nach Leben

KINO Trotz Nähe zu Sponsoren und offizieller Politik: Die Russische Filmwoche ist ein Ereignis

Radikale Putin-Gegner wird man freilich auch in diesem Jahr vermissen

Ein Festivalrenner als Eröffnungsfilm („Der Geograf, der den Globus austrank“), eine cool gemachte Horrorkomödie, in der russische Touristen finnischen Zombies zum Opfer fallen („Die Shopping Tour“), ein weitgehend übersehener Berlinale-Wettbewerbsfilm („Ein langes und glückliches Leben“), ein nachdenklicher wie jugendlicher Post-Tschetschenien-Film („Durst“), eine atemlose Wortgefechtskomödie („Das Wahrheitsspiel“), zwei nationale Blockbuster-Produktionen als Zugpferde (das Katastrophen-Untergrund-Melodrama „Metro – Im Netz des Todes“ und das Eishockeyspektakel „Die Legende Nr. 17“), nicht zuletzt der wohl klügste und interessanteste russische Film des Jahres, „Die Rolle von Konstantin Lopusanskij“: Die 9. Russische Filmwoche in Berlin kann man durchaus als filmisches Ereignis dieses an filmischen Ereignissen nicht ganz raren Berliner Herbstes bezeichnen.

Das war bei Weitem nicht immer so. Oft sah man dem Programm seine Nähe zu Sponsoren und einer offiziellen Kultur-(Außen-)Politik, die international geschätzte, aber regimekritische Regisseure lieber ignoriert, zu sehr an. Radikale Putin-Gegner wird man freilich auch in diesem Jahr vermissen, und das Prä-Sotschi-Sportdrama „Die Legende Nr. 17“ liegt schon schwer jenseits der weiß-blau-roten Schmerzgrenze. Aber so zu tun, als sei alles, wo das Russische Kulturministerium Geld drinhat, verurteilenswert naiver, anbiedernder oder nationalistischer Schund, hieße, die komplizierte Realität aktueller Kulturproduktion zu verkennen.

Dmitrij Tjurins Durst etwa erzählt auf der Basis des gleichnamigen Erfolgsromans von Andrej Gelasimov die Geschichte Kostjas, der bei einem Panzereinsatz im Nordkaukasus fast verbrennt und im Leben nach dem Krieg ein ewig Fremder bleibt. Seine Buddies – um die 20 wie er, auch schon Veteranen – sind reintegriert; er führt lieber ein introvertiertes Schattendasein in der fiktiven Welt seiner Zeichnungen. Der Suff ist immer eine Option, erst die Suche nach einem vermissten Kameraden weckt den eigentlichen Durst – den nach Leben. Trotzdem spiegelt sich im Verlorensein der Jungen die soziale Lethargie ihrer Eltern, jener Übergangsgeneration von sowjetisch zu postsowjetisch, für die nun die individuelle Selbsterfüllung in der Post-Perestroika-Zeit alles war und immer noch ist.

Mehrere Filme des Programms widmen sich diesem augenscheinlichen Kulminationspunkt der russischen Wirklichkeit. Da gibt es ein Mädchen, das sich bei ihrer Anklage gegen ihren Vater zwischen altem Moralkeuleschwingen und neuer Religiosität einpendelt („Die Tochter“). Oder in „Metro – Im Netz des Todes“, in den auf Hollywood-Level überfluteten U-Bahn-Tunnel Moskaus vergessen zwei männliche Konkurrenten (Familien-Papa versus Lover-Papa) immer wieder, dass auch das Kind draufgehen wird, wenn sie sich weiter so besessen dem privaten Ringkampf hingeben.

Den Höhepunkt des Generationen-Paradigmas stellt der Film „Der Geograf“ dar, der den Globus austrank. Auf dem Rückgrat des neuen Russland, im Ural, ereignen sich die wahren existenzialistischen Dramen jener Menschen über 40, die von der Hauptstadt in die Provinz, vom Lehrstuhl in die Klasse kommen, sich von der Stütze der familiären Keimzelle entfernen und zum Loser der Nation degradiert werden – wohlunterstützt von Wodka & Co.

Neben Kurzfilm-, Kinder- und Rahmenprogramm bietet sich zudem noch Gelegenheit, die stilsichere Auseinandersetzung des Regisseurs Konstantin Lopuschanski mit den bürgerkriegsgefärbten 1920er Jahren zu sehen. „Die Rolle“ heißt sein Film, in dem ein Schauspieler, ehemals auf der Seite der sogenannten Weißen Armee, in eine solche Rolle schlüpft und als Roter Offizier mit vermeintlicher Amnesie in das wild gewordene postrevolutionäre Russland zurückkehrt – um dort die Theaterexperimente eines Nikolaj Evrejnov zu toppen. Das Leben führt Regie! Kunst ins Leben! Schöne Slogans eigentlich. BARBARA WURM

■ Russische Filmwoche. Noch bis 4. 12., Kino International, Filmtheater am Friedrichshain, Russisches Haus. Programm unter: russische-filmwoche.de, siehe auch taz.plan