: Das innerste Wesen
In den Tiefen des enthüllten Sinns, in den Spannungen des Empfindens: Am Sonntag ging in Berlin der 72. Internationale PEN-Kongress unter dem Titel „Schreiben in einer friedlosen Welt“ zu Ende
von GERRIT BARTELS
Es war am Samstagmittag, so kurz vor zwölf, als man als durchschnittlicher Berichterstatter einmal in den vollen Genuss dessen kommen konnte, was so einen PEN-Kongress in seinem innersten Wesen ausmacht. Statt der auf dem Programm stehenden Abschlussfeier zog sich eine Delegiertenversammlung bis weit über das Mittagessen hin, zu viel gab es da unter dem Vorsitz des tags zuvor in seinem Amt bestätigten PEN-Chefs Jirí Gruša im Ballsaal des Hilton-Hotels in Berlin noch zu besprechen.
Die iberoamerikanische Stiftung informierte die Delegierten darüber, wie sie die PEN-Zentren in der spanisch sprechenden Welt unterstützt, was diese zuletzt auf die Beine gestellt haben und für die Zukunft planen. Der mexikanische PEN etwa hätte sich zuletzt für fünf auf Kuba inhaftierte Schriftsteller eingesetzt, so die Dame von der Stiftung, der galizische PEN wiederum organisiere demnächst einen Schriftstellerkongress in Santiago de Compostela, und das PEN-Zentrum Guatemala sei auf einem guten Weg, sich Statuten zu geben.
Nachdem von Gruša und seinen Beisitzern und Beisitzerinnen beschlossen worden war, diesen Bericht ins Protokoll aufzunehmen, nachdem auch noch eine Frage aus dem Auditorium beantwortet worden war („Wie hilft die Stiftung Schriftstellern und Schülern in den Städten Lateinamerikas?“ Antwort: „Zentren stärken, Aktivitäten fördern, Pläne aufstellen“), wurde aus den freitäglichen Workshops berichtet. Es gebe ein großes Informationsbedürfnis über die Missionen, Visionen und Identitäten des Internationalen PEN, hieß es, die kommunikativen Strukturen seien aber extrem ausbaufähig, von wegen Webseiten, Blogs, PR-Arbeit etc. Lobend erwähnte die Workshop-Berichterstatterin die Zusammenarbeit diverser Zentren, insbesondere die Patenschaften Norwegens für Afghanistan und die Portugals für afrikanische Schriftsteller. Darauf folgten an diesem Samstagmittag die Berichte der Aktivitäten anderer PEN-Zentren. Das mazedonische wies auf seine regelmäßig stattfindende Regionalkonferenz hin, das aus Hongkong kündigte die Themen seiner Konferenz Ende des Jahres an – die bedrohte Meinungsfreiheit in China, auch in Hongkong, das Problem der Internetzensur, die Pläne für die Olympiade 2008 in Peking und wie man diese als Plattform für eigene Anliegen nutzen könne. Viel Beifall erhielt der Delegierte aus Senegal, der den Internationalen PEN-Kongress 2006 in Dakar vorstellte, und seine Rede schloss mit den Worten: „Selbst das Beste vom PEN reicht eben nie aus!“
Ein internationaler PEN-Kongress also, wie er leibt und lebt: spröde, bürokratisch, mit Funktionären, die irgendwie auch Schriftsteller sind, und Schriftstellern, die gerne Funktionäre sind. Ganz anders aber hatte sich der PEN-Kongress in diesen Berliner Tagen der Öffentlichkeit präsentiert: etwa mit einem typischen Literaturevent, so überdimensioniert war er mit acht Lesungen an einem Abend, der jedoch viel Publikum zog, „Literatur der Welt“ in der Akademie der Künste; etwa mit dem Afrika-Abend, der das Spektakuläre verband mit einem der Hauptanliegen dieses Kongresses, das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf eine Region zu richten, in der unter allerfriedlosesten Bedingungen geschrieben wird; zu nennen wäre auch die Eröffnung, auf der Bundespräsident Köhler und Günter Grass sehr beachtete und im Fall von Grass durchaus beachtliche Reden hielten.
Diese Diskrepanz zwischen PEN-Arbeitssitzungen und ausstrahlungsstarken Veranstaltungen, die den Stoff für die Nachrichtenagenturen liefern, diese Diskrepanz besteht gleichfalls zwischen dem gesamten Kongress und seiner tatsächlichen Wirkmacht: Wo ein Günter Grass spricht, eine Nadime Gordimer, wo A. L. Kennedy oder Per Olov Enquist lesen, wo Uri Avnery die Aufgabe der Literatur und ihrer Produzenten darin sieht, „die Mythen des Feindes zu verstehen und mitzuhelfen, eine gemeinsame Erzählung zu schaffen, eine Erzählung, die beide Seiten sieht“, die Israelis hier, die Palästinenser dort, so eine Zusammenkunft hat zuvorderst symbolischen Wert.
Effektiver, als Matthias Claudius zu zitieren mit „’s ist Krieg / ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre / Und red Du darein! / ’s leider Krieg – und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein“, oder darauf zu verweisen, wie sehr Dichter selbst Machtmissbrauch betrieben, sie gar selbst Tyrannen und Kriegsherren waren, effektiver ist es wohl, Geld für Anwälte zu sammeln, was sich zumal in einem Land wie China als enorm schwer herausstellt, effektiver ist es, sich ganz konkret auf politischer Ebene für inhaftierte Schriftsteller einzusetzen.
Wie viel von den vielen schönen und ja richtigen Worten nun ihren Weg in wie viele Entscheiderohren gefunden haben, lässt sich naturgemäß nicht sagen, und das ganz ohne den Hohn, den Gert Heidenreich als Moderator einer Veranstaltung in vorauseilender Schelte wieder von den Feuilletons zu hören vermochte. Wie schwer es ist, Zeitzeuge zu sein, der Wirklichkeit mit Geschichten beizukommen, auch der Wirklichkeit der globalisierten Medienwelt mit ihren Bildern, das wissen die Schriftsteller, zumindest die, die nicht nur Funktionäre sein wollen, noch immer am besten.
Der aus Nicaragua stammende Schriftsteller Sergio Ramírez fand in seinem (in der taz am Mittwoch abgedruckten) Essay den Begriff des „Modellbaukastens“, den er zum Zusammensetzen der Wirklichkeit zur Verfügung hat, und argumentierte selbst mit ihn bedrängenden Bildern. So mit dem des ausgemergelten, restlos entkräfteten, zurückgelassenen Kindes im Sudan, neben dem ein Geier sitzt; ein Bild wiederum, hat man es einmal gesehen, das eine viel größere, schnellere Schockwirkung auszulösen vermag als tausend die Gewalt und die Ungerechtigkeit der Welt anprangernde Essays von Sergio Ramírez.
Das weiß auch die südafrikanische Schriftstellerin Nadime Gordimer. Sie setzte in einem Aufsatz gegen solche Nachteile der Schriftsteller den Bildern gegenüber die existenzielle Aufgabe der Literatur, die „Zeugnisliteratur“, das, was „in den Tiefen des enthüllten Sinns“ zu finden ist, „in den Spannungen des Empfindens, in der gespannten Wahrnehmung, in den Antennen der Empfänglichkeit für die Leben, unter denen Schriftsteller das eigene als eine Quelle ihrer Kunst zu erfahren“.
Dass es auf einem PEN-Kongress genauso diskursiv und uneins wie überall auf der Welt zugeht, dass etwa ein Exilschriftsteller wie der Rumäne Norman Manea einen anderen Blick auf die USA hat als Günter Grass, und noch einen anderen hat der indischstämmige Kanadier Haroon Siddiqui, der hart mit dem verzerrten Islamdiskurs der westlichen Welt ins Gericht ging, versteht sich von selbst. Dazu passt, dass man sich nur grummelnd und unentschlossen zum Heinrich-Heine-Preis an Peter Handke äußerte (hier der Kollege, dort dessen hartnäckige, fast starrsinnige politische Verirrung), und dazu passt, dass bis Sonntag, 13 Uhr 30 (Redaktionsschluss in der taz-Kultur) noch kein Abschlusskommuniqué vorlag. Wenn die Welt durch so einen Kongress zwar kein klitzekleines bisschen friedvoller wird, so wäre es ja schon was, würde durch ihn möglicherweise gerade in einer immer noch unwahrscheinlich privilegierten Welt wie der unseren das Bewusstsein dafür geschärft, in was für einer friedlosen Welt wir tatsächlich leben.