: Ausverkauf der Ausgebeuteten
Eine Analyse des Bezirkamts Marzahn-Hellersdorf zeigt: Vietnamesische Einzelhändler halten der Konkurrenz von Discountern nicht mehr stand. Die Folgen sind Verschuldung, Sucht und Krankheit. Vor allem die Kinder leiden unter der Armut
von Marina Mai
Wenn die Schule aus ist, beginnen für die 14-jährige Lan* die Familienpflichten. Jeden Tag muss sie ihre Schwester aus der Kita abholen. Zu Hause kümmert sie sich um die Fünfjährige, kocht das Essen, putzt die Wohnung. Und macht Hausaufgaben, denn ihre Eltern erwarten von ihr, dass sie eine gute Schülerin ist. Früher hatten sie immer wieder Asylbewerberinnen als Haushaltshilfen in die Familie aufgenommen. Heute können sie sich das nicht mehr leisten. Früher bekam Lan auch 3 Euro Taschengeld am Tag. Als Belohnung, weil sie es auf das Gymnasium geschafft hatte. Heute geben ihre Eltern ihr nur noch Geld, wenn etwas in der Familienkasse ist. Das ist es in letzter Zeit selten.
Lans Eltern sind Ende der 80er-Jahre als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen. Jahrelang hatten sie einen Blumenladen betrieben. Das hieß: Arbeit an sechs Tagen in der Woche, von morgens um vier Uhr bis abends 19 Uhr. Vor drei Jahren sattelten die Eltern auf den Verkauf von Geschenkartikeln um, weil sie der Belastung, jede Nacht frische Blumen einkaufen zu müssen, nicht mehr standhielten. Seitdem geht es weiter bergab.
Lands Eltern sind kein Einzelfall: Viele vietnamesische Einzelhändler, deren Vorteil die Selbstausbeutung rund um die Uhr ist, können dem Preisdumping der Discounter nicht mehr standhalten. Die ganze vietnamesische Subwirtschaft droht derzeit in den Konkurs zu gehen.
Wie dramatisch die Lage ist, beschreibt eine Analyse des Migrationsbeirats von Marzahn-Hellersdorf, die bereits vom Oktober vergangenen Jahres stammt, bisher aber im Bezirksamt intern behandelt wurde. Die sozialen Probleme der ehemaligen Vertragsarbeiter sind dem Papier zufolge heute oft „Verschuldung, Probleme mit Vermietern und Sucht“. Es türmten sich die Mietschulden entweder für die Wohnung oder für die Gewerberäume, heißt es in der Analyse. Spielsucht, Drogen- und Alkoholabhängigkeiten seien in der Community verbreitet.
Zudem hätte die „Dauerbelastung harter und langer Arbeitstage ohne Urlaub, eine auf ein Minimum beschränkte Freizeit der Gewerbetreibenden und überhaupt fehlende Zeit für sich selbst“ zu Krankheitsbildern geführt, die eher für Hungergebiete in Staaten der Dritten Welt typisch sind. In dem Papier ist beispielsweise die Rede von den Folgen einseitiger Ernährung bis hin zu einzelnen Fällen von Skorbut, von psychosozialen und psychischen Krankheitsbildern sowie pathologischen Organbefunden, die oft gar nicht oder zu spät und unsachgemäß behandelt würden.
Viele vietnamesische Händler haben keine Krankenversicherung und gehen deshalb nur im absoluten Notfall zum Arzt. Fehlende Sprachkenntnisse haben zur Folge, dass Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrgenommen werden. Vietnamesischsprachige Mediziner gibt es in Berlin nicht. Auch die Behandlung ist beeinträchtigt, wenn Arzt und Patient sich nicht richtig verständigen können. Die „Folgen sind verspätete und Fehldiagnosen, ein Kreislauf aus Untersuchungen und Medikamentionen und letztlich kostenintensiven, unbefriedigenden Ergebnissen“, so die Analyse.
Marzahns Bezirksbürgermeister Uwe Klett (Linkspartei) sagte der taz, dass er das Problem sehr ernst nehmen würde. Die Fachabteilungen des Bezirksamts hätten das Papier zur Stellungnahme bekommen. Noch liegen nicht alle Rückmeldungen vor. „Mir ist klar, dass wir die Situation nur gemeinsam mit dem Bezirk Lichtenberg lösen können, vielleicht auch in einem späteren Schritt gemeinsam mit weiteren Bezirken“, sagte er. In Lichtenberg und Marzahn leben die meisten vietnamesischen Migranten. In einem Treffen mit der Lichtenberger Bürgermeisterin Christina Emmrich (Linkspartei) wurde vereinbart, dass die Migrationsbeiräte beider Bezirke gemeinsam Handlungsempfehlungen vorschlagen sollen. Die sind nun in Arbeit. Denkbar sind beispielsweise Existenzgründerseminare für vietnamesische Selbstständige.
Auch die Verwaltungen müssten auf die Vietnamesen zugehen, meint Elena Marburg, die Migrationsbeauftragte von Marzahn-Hellersdorf. „Die Vietnamesen sind es nicht gewohnt, sich Hilfe außerhalb ihrer ethnischen Gruppe zu holen“, sagt sie. Die Hilfe aus dem eigenen ethnischen Netzwerk sei oft zu unprofessionell und koste den Hilfesuchenden Geld.
Für das problematische Feld der Gesundheit liegen noch keine Handlungsempfehlungen vor. Doch den Schulen in den Ostbezirken soll vorgeschlagen werden, für die vietnamesischen Eltern jahrgangsübergreifend Extra-Elternversammlungen in vietnamesischer Sprache durchzuführen. Heike Marquardt, die Migrationsbeauftragte von Lichtenberg begründet das: „Damit sollen die Eltern, die sonst wegen Sprachproblemen und fehlender Zeit nicht zu Elternversammlungen gehen, ihre Erziehungsmodelle diskutieren und vor Gefahren gewarnt werden können.“ Die Situation der Kinder war es auch, die Uwe Klett in dem Papier am meisten erschreckt hatte. Da heißt es etwa: „Das gesamte Leben wird der Arbeit und Existenzsicherung untergeordnet. Gemeinsam verbrachte Familienfreizeit findet häufig nur eingeschränkt statt.“
Weil die Eltern oft nicht vor 21 Uhr von der Arbeit kommen, müssten selbst Kinder in der ersten und zweiten Klasse schon selbstständig den Haushalt der Eltern führen. Kinder betreuen jüngere Geschwister und helfen im Geschäft der Eltern mit. Kleinere Kinder werden nach Kitaschluss und am Wochenende ins Geschäft der Eltern mitgenommen. „Dort erfahren sie keinerlei Betreuung. Den Schulen bleibt oft verborgen, dass die leistungsstarken vietnamesischen Schüler sehr oft einer dauerhaften Überforderung ausgesetzt sind“, so das Papier. Trotzdem erwarten die Eltern, dass ihre Kinder gute Noten nach Hause bringen.
Auch die 14-jährige Lan bekommt Probleme, wenn die Noten in der Schule nicht stimmen. Den Abstieg ihrer Familie in den vergangenen zwei Jahren hat sie erlebt: Zuerst zog die Familie in eine kleinere Wohnung, wo Lan kein eigenes Zimmer mehr hat. Jetzt wollen die Eltern auch noch die Betreuungszeiten in der Kita für die Schwester reduzieren, um Kosten zu sparen. Und die Krankenversicherung haben die Eltern abgemeldet. Die beiden Töchter sind privat versichert. Noch. Dass Lans Eltern auch die Zahlungen an die Familie in Vietnam reduziert haben, findet das Mädchen in Ordnung. Doch für die Eltern ist das das größte Problem. Schließlich war es die Großfamilie, die sie einst in die DDR geschickt hat, um für sie das Geld zu verdienen.
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen