: Wilder schaut zurück
EXHIBIT A Der südafrikanische Theatermacher Brett Bailey fragt in Wien und Braunschweig nach deutschen Kolonialverbrechen
Angenommen, man setzt einen Trupp europäischer Ethnologen auf dem Heldenplatz vor der Wiener Hofburg aus, nachdem man ihnen im Gedankenexperiment das kulturelle Gedächtnis, nicht aber ihre Sprache und ihr methodisches Instrumentarium genommen hat. Wie würden sie beschreiben, was sie sehen?
Ein monumentaler Gebäudekomplex, an dem offenbar über Jahrhunderte ständig gebaut wurde, beginnt in unmittelbarer Nähe einer alten städtischen Ansiedlung und breitet sich auf einer Achse nach Westen in immer größerem Maßstab aus. Das Halbrund eines jüngeren Baukörpers umschreibt die Stirnseite einer Freifläche, die von zwei Statuen berittener Krieger im Zentrum dominiert wird, ein Aufmarschplatz für gewaltige Heerscharen, die dort ihrem Führer huldigten? Die jüngeren Bauten sind nicht nur raumgreifender, sondern auch weitaus expressiver in ihrem Äußeren. Doch dann bricht die Ausbreitung auf der Westachse ab. Was führte zu diesem kulturellen Sauriersterben? Sind hier gleich mehrere dieser expansiven Weltbeschreibungssysteme in einem vernichtenden Krieg aufeinandergetroffen?
Hier in der imperialen Pracht verortet der südafrikanische Theatermacher Brett Bailey das Herz der Finsternis – aus afrikanischer Sicht. Die Wiener Version seiner mit Theaterformen in Braunschweig koproduzierten Installation „Exhibition A: Deutsch-Südwestafrika“ zeigten die Wiener Festwochen im Völkerkundemuseum in ebenjenem Hofburgkomplex. Zwischen Marmorsäulen geht es hegelianisch zu. Auch das späte 19. Jahrhundert wähnte sich schon einmal am Ende der Geschichte. Die Zivilisation feierte ihren Weg, indem sie jene Zeiten, Völker und Kulturen betrachtete, die sie durch sich überwunden glaubte. Die großen Zeiten, die draußen in Stein gemeißelt sind, waren auch die, in denen man in Wien und anderswo unverblümt im Tiergarten oder auf der Weltausstellung „Wilde schau’n“ ging.
Jetzt schauen die Exponate zurück. Baileys Mitspieler aus Namibia, aber auch in Deutschland und Österreich lebende AfrikanerInnen entwerfen lebende Bilder, die sich auf den ersten Blick kaum von den Arrangements unterscheiden, in denen völkerkundliche Sammlungen noch heute ihre Fund- und Beutestücke dem Publikum präsentieren. Selbst die Texttafeln daneben ahmen präzise die pseudoobjektive Kuratorensprache aus den einschlägigen Institutionen nach. Schon das allein macht im Blick, im Atem, in der körperlichen Präsenz lebender Menschen das Verharren in einer unbeteiligten Zuschauerposition unmöglich.
Die Grausamkeit der Bildinhalte selbst erschließt erst der zweite Blick. Die Rede ist vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, vom Vernichtungskrieg der deutschen Schutztruppen gegen die Hereros 1904 bis 1908 in der Kolonie Südwestafrika. Neu daran mag für die meisten Zuschauer nicht die Nachricht selbst sein, sondern dass sie hier mit eigenem historischem und politischem Geltungsanspruch vorgetragen wird. Die Kolonialverbrechen kommen in der deutschen Debatte zumeist als Fußnote zum Holocaust vor. Immer wenn nach dem Ursprung des ungeheuerlichen Gedankens gesucht wird, so etwas wie den Holocaust überhaupt zu denken, landet man beim Vernichtungsbefehl des Generalleutnants Lothar von Trotha.
Eine Texttafel verweist auf die Unterkunft eines deutschen Schutztruppenoffiziers. Eine Frau sitzt auf dem Bett mit dem Rücken zum Publikum, den Hals und die Handgelenke in Ketten. Der drastische Verweis auf die sexuelle Gewalt der Kolonisatoren gibt einer vorangegangenen Installation erst die volle Bedeutung. Bevor afrikanische Kinder das geneigte Publikum einzeln zur „Ausstellung“ führen, wartet man in einem Stuhlkreis. In der Mitte steht eine offene Vitrine, darin steht auf einer Drehscheibe eine junge Afrikanerin, nur mit Stöckelschuhen und Körperschmuck bekleidet.
Aus dem Off klingt der Gesang des „Ave Maria“. Wer sich heute mit „freedom and democracy“ mal wieder am Ende der Geschichte wähnt, wird einiges zu verdauen haben. UWE MATTHEISS
■ „Exhibit A: Deutsch-Südwestafrika“. Braunschweig am 3., 4., 5. und 6. Juni