piwik no script img

Archiv-Artikel

Tanz die Politik, die Gesellschaft

Seit fünf Jahren versteht sich das Festival In Transit im Berliner Haus der Kulturen der Welt als ein Forschungsprojekt zur kulturellen Globalisierung und der Veränderung der Künste: Dieses Jahr liegt der Schwerpunkt auf Taiwan und Brasilien

Bilder, die Momente des Schmerzes, des Leidens, der Verletzung, der Angst, des Kollapses ausstellen

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Wenn heute in Afrika darüber diskutiert wird, ob man gefahrlos nach Deutschland reisen kann, ist das nicht ein Zeichen dafür, dass Deutschland viel verschlafen hat? Den Veränderungsprozess von Identität in einem Einwanderungsland zum Beispiel offen zu thematisieren? So fragt Johannes Odenthal, der am Haus der Kulturen der Welt in Berlin die Abteilung für Musik, Tanz und Theater leitet. Vor fünf Jahren rief er dort das Festival In Transit ins Leben, das oft die Fragen, was Identität in Zeiten von Interkulturalität und Postkolonialismus bedeuten kann, ins Zentrum rückte. Viele der eingeladenen Gastspiele kreisten um historische und politische Erfahrungen, wie sich Machtverhältnisse in die Körper einschrieben, die Künste zensierten und Traditionen verdrängten. Aber wie auch andere Festivals, die im Kontext der Migration entstanden sind, erfahren mussten, war die Vermittlung oft nicht einfach. Neben den Aufführungen gab es jedes Jahr ein Laboratorium, in dem Choreografen, Tänzer und Regisseure ihre Arbeitsmethoden vorstellten und für andere öffneten.

Dieses Jahr findet In Transit vermutlich zum letzten Mal statt, da Johannes Odenthal das Haus der Kulturen der Welt verlässt. Das Programm sieht nicht mehr ganz so hybrid schillernd und Cross-Culture-verliebt aus wie die Jahre zuvor. Denn Odenthal setzte einen Schwerpunkt auf das Cloud Gate Theatre auf Taiwan, das mit seiner Trilogie „Cursive“ angereist kam. „Man hat nicht oft Gelegenheit, nicht nur ein Tanzstück, sondern ein choreografisches Werk zu präsentieren“, begründet er die Entscheidung. Nicht zuletzt hat die Einladung des Cloud Gate Theatre dem Festival auch eine größere Öffentlichkeit gebracht, besticht die technische Perfektion und Schönheit der Choreografien doch ein größeres Publikum. Der zweite Schwerpunkt kommt aus Brasilien und wird unterstützt vom „Copa da Cultura“, dem brasilianischen Kulturjahr in Deutschland, das sich auch über In Transit hinaus im Haus der Kulturen der Welt präsentiert.

An der Trilogie „Cursive“ hat Lin Hwai-Min, der die Cloud Gate Company 1973 gründete, über fünf Jahre gearbeitet. Die Beschäftigung mit der Dynamik von Schriftzeichen brachte ihn zu einer immer freieren Bewegungssprache. Im ersten Teil sind noch einige ausgewählte Kalligrafien eingeblendet, an deren aufsteigenden und fallenden Pinselstrichen, der genauen Akzentsetzung und malerischen Ausschmückung sich die Bewegungen orientieren. Selbst in Taiwan, erzählt Lin Hwai-Min, bereitete das Stück dem Publikum anfangs Kopfschmerzen, weil es glaubte, die Schriftzeichen lesen zu müssen, um den Tanz zu verstehen. Dabei lassen die Zeichen sich nicht lesen, es sind eher Bilder der Schrift und der Sprache als die Sprache selbst, abkoppelt von konkreten Bedeutungen; ebenso wie die vielen Gesten der Kampfkunst, in denen die Tänzer sich immer wieder formieren und Aufstellung nehmen für die nächste Aktion, nicht den Kampf, sondern nur sein Bild auf die Bühne bringen. Beide Quellen nutzt Lin Hwai-Min, weil sie in die Tradition Taiwans und Chinas zurückweisen, aber auch, weil sie spezielle Techniken der Konzentration und der Präsenz entwickelt haben.

Mit diesen Mitteln verlässt er in seinen Stücken die Narration, die früher noch sein Anliegen war, um immer mehr zu dem Moment vorzustoßen, in dem Bewegung entsteht. „Ready to face the world“, so nannte der Kunsthistoriker Sarat Maharaj aus London, der mit Lin Hwai-Min über die Quellen seiner Kunst redete, jenen Zustand hoher Konzentration und Wachheit, der „Cursive“ seine besondere Spannung gibt. Sarat Maharaj verglich die Bewegungen, die sich immer von einer Aufgabe als Bedeutungsträger lösen, mit dem Schritt der amerikanischen Malerei in den abstrakten Expressionismus in den Fünfzigerjahren – und tatsächlich erinnern viele Augenblicke in „Cursive“ an das All Over und die Spontaneität des Drippings in den entgrenzten Leinwänden von Jackson Pollock. Das aber war für Lin Hwai-Min nicht der Punkt, anknüpfen zu wollen an eine internationale Moderne; er hat viel mehr aus dem Inneren der Körper und ihrer Erdung nach einem freieren Gestus gesucht. Dass in den Augen des Betrachters aber das eine in das andere mündet, macht eben den Kontext der Rezeption einer weltweit auftretenden Truppe aus.

„Cursive“ erscheint wie aus einem Guss und ist nicht mehr von den Brüchen eines Kampfes zwischen alten Traditionen und neuen Formen gekennzeichnet, die viele In-Transit-Produktionen prägte. Das Ungeschliffene und die Bewegungen einer Suche, die Kunst dort auszeichnet, wo sie sich ihrer Voraussetzungen nicht sicher ist, sind eher in den Tanz- und Performanceprojekten aus Brasilien zu finden. Sie brachten teilweise sehr dunkle und mit vielen Bedeutungen besetzte Bilder hervor, selbst da, wo die Bewegungen und Aktionen reduziert sind. Bis zum Mystischen steigert sich das in der Performance „As Galinhas (Die Hühner“), ursprünglich 1980 in São Paulo uraufgeführt und jetzt wieder aufgenommen. Das Stück ist auch ein Zeugnis für den Transfer des Butoh von Japan nach Brasilien, denn der Regisseur war der japanische Butoh-Tänzer Takao Kusuno. Ismael Ivo, der die Wiederaufnahme leitete, war damals ein junger Tänzer in Brasilien; inzwischen lebt er seit vielen Jahren als Choreograf in Berlin. Mit ihm stehen Renée Gumiel und Dorothy Lenner auf der Bühne, zwei sehr alte Damen. Vor allem Gumiels schmaler Körper wirkt wie aus Papier und Glas, und diese Zerbrechlichkeit verstärkt das Gespenstische der Wiederaufnahme: Es ist eine Séance der Beschwörung alter Geister.

Ismael Ivo ist schwarz, die Damen sind weiß. Er ist jung und stark, sie sind alt und schwach. Er bewegt sich mit animalischer Geschmeidigkeit, Renée Gumiel dagegen an der Grenze zum Verebben jeder Kraft. Die Dialektik der Hautfarben, von Herrschaft und Dienerschaft, von Frau und Mann, schrammt an vielen sexuell aufgeladenen und exotisierenden Klischees vorbei. Ebenso ist in der Behutsamkeit und Zartheit der Bewegungen der Wunsch zu spüren, die Richtung all dieser Bilder umzukehren.

Die Rekonstruktion von „As Galinhas“ war dem Wunsch geschuldet, noch einmal an die Erfahrung des Widerstands anzuknüpfen, als in der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien viele Kunstformen unter Generalverdacht standen. Die Idee der Wiederaufnahme stammt vom Festivalkurator. Ob man in Brasilien selbst dieses Zusammentreffen asiatischer und europäischer Avantgarden des Ausdruckstanzes in São Paulo für ebenso legendär ansieht, bleibt offen. Denn als Johannes Odenthal die Choreografin Lia Rodrigues bittet, von den 80er-Jahren und den Kampf der Künstler um Anschluss an die internationale Moderne zu erzählen, reagiert sie einigermaßen empört. Das wäre das Problem mit den Europäern, dass sie so wenig von der eigenen Moderne Brasiliens seit Beginn des 20. Jahrhunderts wissen. Und als er sie gleich danach nach der Verschmelzung vieler unterschiedlicher kultureller Wurzeln in der brasilianischen Identität fragt, die in Zeiten der Globalisierung so gerne als ein Ideal angeführt wird, beharrt sie noch einmal auf den Unterschieden der Wahrnehmung. „Identität, das ist in Brasilien nicht unsere Frage; das scheint euer Problem.“

Viel lieber erzählt sie von ihrem Projekt, mit ihrer Compagnie in eine der Favelas von Rio de Janeiro gezogen zu sein und eine leer stehende Halle nicht nur als ihr Studio, sondern auch als Raum für Kultur für die Community dort eingerichtet zu haben. „Ich glaube, der Ort, wo wir sind, bringt unser Denken hervor“, begründet sie die Entscheidung, sich mitten in die Realität von No-go-Areas und Bandenkriegen begeben zu haben. Ein zweites Standbein hat ihre Compagnie in Paris. Noch immer kommt ein Teil des Geldes, mit dem sie in Rio produzieren kann, nicht aus Brasilien, sondern von internationale Koproduzenten.

Ihr Stück „Incarnat“ ist dem Umgang mit dem Schrecken gewidmet. In aller Stille führen ihre Tänzer eine Reihe von Bildern vor, die Momente des Schmerzes, des Leidens, der Verletzung, der Angst, des Kollapses ausstellen – in großer Anspannung und unter Einsatz von viel Ketchup-Blut. Spürbar wird das Zusammennehmen aller Kräfte, um durch diese Passionen hindurchzugehen; erahnbar die Inspiration an barock katholischer Kunst ebenso wie an Ritualen der Transformation. Und nur viel zu selten die Befreiung vom Druck, sich zu den Erscheinungsformen der Gewalt verhalten zu müssen.

Nicht immer geben die Stücke Antworten auf die Fragen, die den Festivalmacher zu ihrer Einladung bewogen haben – aber das macht nichts, denn oft entsteht gerade aus dem, was sich zwischen Erwartungen und Erfahrungen verändert, eben das, was man Erkenntnis nennen könnte.

Das Festival In Transit geht mit Produktionen aus Brasilien und Afrika weiter bis 4. Juni