: „Ich war ein rotes Tuch mit meinen marxistischen Allüren“
WOHNUNG ODER KLINIK Generationen von Psychologie-Studenten lasen sein Buch „Bürger und Irre“. Nun wird Klaus Dörner, der große Reformer der Psychiatrie, 80 Jahre alt. Ein Gespräch über Stellenanzeigen, Arbeit im Gesundheitsamt und das Potenzial des Nachbarschaftsgens
■ 80, in Duisburg geboren, studierte von 1954 bis 1960 Medizin und Philosophie, danach folgte ein Zweitstudium in Geschichte und Soziologie, das er 1969 abschloss. Im selben Jahr erschien sein Buch „Bürger und Irre“.
■ Anschließend arbeitete er als Psychiater am UKE in Hamburg und war von 1980 bis 1996 Leiter der Westfälischen Landesklinik für Psychiatrie in Gütersloh.
■ Er ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie und der Deutschen Hospizhilfe. Seit 2003 ist er Mitglied im Präsidium des Evangelischen Kirchentags.
■ Sein letztes Buch erschien Ende Oktober. Es heißt: „Herr Dörner kommt mit dem Zug; 80 Jahre – 80 Begegnungen“. Paranus-Verlag, Neumünster 2013, 192 Seiten, 24,95 Euro.
INTERVIEW FRANK KEIL
taz: Herr Dörner, Sie sind in Duisburg als Sohn eines Arztes aufgewachsen.
Klaus Dörner: Mein Vater war praktischer Arzt und Geburtshelfer, wie das damals hieß. Als Kleinunternehmer wollte er natürlich, dass ich seine Praxis erbe. Da ich damals noch nicht gewusst habe, dass man antiautoritär sein durfte, war ich eben autoritär und wollte meinen armen Vater nicht enttäuschen. Und habe gesagt: Okay, ich studiere jetzt einerseits deine blöde Medizin, wo ich gar keinen Spaß dran habe, andererseits aber auch Philosophie. Das ging damals wunderbar, weil alles noch nicht so verschult war. Ich habe damals alle ein bis zwei Semester die Uni gewechselt.
Sie haben ständig Ihren Studienort gewechselt?
Man hat damals gefragt: Wo unterrichten interessante Menschen? Und dann ist man da hingegangen. In Freiburg habe ich angefangen, dann Kiel, dann zwei Semester in Heidelberg, dann kam Tübingen, dann kam das erste Mal Hamburg, dann ein Semester in Paris, wieder zurück nach Hamburg, wo ich das medizinische Staatsexamen gemacht habe, dann habe ich mit Soziologie und Geschichte noch ein Zweitstudium draufgesattelt, und das habe ich in Berlin gemacht. Am Ende erschien mein erstes Buch „Bürger und Irre“, wo ich die These ausprobiert habe, dass die Psychiatrie ein Produkt der Industrialisierung der Gesellschaft darstellt. Ich konnte das am Anfang nicht so klar benennen, aber ich habe die ersten Grundsteine für diese Interpretation gelegt. Im April 1968, zurück in Hamburg, begann meine Zeit als Assistenzarzt und dann als Oberarzt. Wir haben eine psychiatrische Tagesklinik gegründet, wir haben das erste Mal mit Angehörigengruppen zusammengearbeitet und vorgemacht, wie das geht. Und dann hatte ich mich in die chronisch Kranken verliebt und wollte die systematisch kennenlernen.
Warum haben Sie sich in die chronisch Kranken verliebt?
Oh, das kann man nicht erklären. Das ist abnorm für einen Mediziner, denn die Mediziner haben schon immer, wahrscheinlich seit Hippokrates, die akut Kranken geliebt, weil die heilbar sind. Die chronisch Kranken dagegen haben sie gehasst wie grüne Seife.
Bei Ihnen ist das offenbar anders gewesen.
Zu Beginn meiner Assistenz fragte mich ein älterer Mitassistent: „Sag mal, hast du Lust, in Hamburg-Altona einmal die Woche im Gesundheitsamt Dienst zu machen, weil die finden keinen Arzt?“ Was ich nicht wusste: 1968 ging kein Arzt in ein Amt, schon gar nicht in das völlig verrufene Gesundheitsamt. Und so lernte ich in Altona, wie Menschen, die chronisch psychisch krank sind, im Alltag mit ihrer Krankheit so leben. Das war ein absolutes Bildungserlebnis, denn die Klinik war eine fiktive Welt, wo alle rumhampelten, und das nannte man dann „psychisch krank“ – nun aber lernte ich die betroffenen Menschen selber kennen.
Sie haben Hamburg dann verlassen müssen.
Ich suchte in Hamburg nach einer leitenden Position im Bereich chronisch Kranker, war mittlerweile Professor, es war eine günstige Zeit, überall wurden Positionen frei, in Ochsenzoll, im Krankenhaus Eilbek. Aber ich bin nicht mal in die engere Auswahl gekommen, so ein rotes Tuch war ich mit meinen marxistischen Allüren. Und dann habe ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben im Deutschen Ärzteblatt die Stellenanzeigen gelesen und bin zufällig auf das Wort „Gütersloh“ gestoßen. Dort wurde jemand für die Leitung des Landeskrankenhauses gesucht – und ich war der einzige Bewerber.
Was fanden Sie in Gütersloh vor?
435 Menschen, die unter dem Etikett „chronisch krank“ liefen – egal ob nun schizophren, dement oder suchtkrank, übrigens fein säuberlich vom Akut-Bereich getrennt. Im Durchschnitt waren sie seit 15 Jahren im sogenannten Heimbereich untergebracht, einige seit 50 Jahren. Ich hab mich dann den Bewohnern vorgestellt und die dachten: „Der ist ja völlig irre.“
Warum?
Die hatten noch nie erlebt, dass sich ihr Chef jedem einzeln vorstellt. Sie kannte sich nur als Masse. Und dann fragte der auch noch, was sie in ihrem Leben als nächstes vorhaben! Ja, was sollen sie vorhaben? Die dachten, ich mache mich über sie lustig. Das Verrückte war: 17 Jahre später waren alle diese 435 Menschen in eigenen Wohnungen untergebracht, fast alle nur mit ambulanter Betreuung. Und alle, die es wollten, hatten eine Arbeitsmöglichkeit.
Wie war das möglich?
Wir haben gegen viele Widerstände ein ambulantes Betreuungssystem aus Profis und nachbarschaftlicher Hilfe aufgebaut und wir haben zwölf Firmen gegründet, mit ganz einfachen Arbeiten, Verpacken, Industriemontage, wo man also keine lange Lernzeit hat. Denn das Problem ist bis heute: Man kümmert sich um die Wohnungen, aber nicht darum, was die Menschen dort in ihren vier Wänden tun – und die kommen dann auf solche Gedanken wie die Wohnung abzufackeln. Ich bin auf diese Weise unter die Unternehmer gegangen, habe gelernt, dass man bei Konjunktureinbrüchen auch mal jemanden rauswerfen muss, weil sonst die Firma Pleite macht – so was Schreckliches. Aber es gehört alles dazu.
Ein wichtiges Element Ihres ambulanten Systems ist die nachbarschaftliche Hilfe. Warum engagieren sich Nachbarn? Haben die Leute nicht selbst genug zu tun?
Es ist möglich, die Nachbarn dazu zu bringen, sich in der Woche ein paar Stunden um die Sorgen und Nöte Fremder zu kümmern, wenn räumliche Grenzen beachtet werden. Die Leute sagen: Wo wohnt der denn? Ja, okay. Aber der nicht, der wohnt ja eine Straße aus meinem Bezirk raus. Nur so funktioniert seit dem Mittelalter Nachbarschaft. Man darf Menschen nicht überfordern. Die meisten machen den Fehler, dass sie wunderbare, bessere Menschen sein wollen. Das haut nicht hin. Man muss es zulassen, das Menschen fragen: Wieso soll ich Fremden helfen, die auch noch dreckig sind und undankbar sowieso? Wichtig ist: Sie müssen es tun.
1996 sind Sie zurück nach Hamburg.
1996 kam meine Berentung und ich dachte: Was machst du denn jetzt? Einerseits war es schön, all die Verantwortung abzugeben für Patienten und Mitarbeiter, und man kann den ganzen Tag nur etwas für sich tun. Aber nach ein paar Wochen fing es an zu grummeln: Das mit dem Ruhestand ist eine glatte Lüge – der Mensch ist dafür nicht geschaffen.
Da war es nahe liegend, dass Sie sich nach den Heimen für psychisch Kranke nun den Altenheimen widmeten.
Ich habe als Lernender angefangen, bin überall hingedüst und es hat gedauert, bis ich so weit war, um andere zu beraten. Heute, was mich sehr freut, melden sich bei mir auch Dörfer mit 1.000 oder 2.000 Bewohnern. Dann sitzen wir im Gasthof zusammen und reden darüber, wie man es schaffen kann, dass die Alten und Kranken das Dorf, das ihre Heimat ist, nicht verlassen müssen. Wie man vielleicht eine familienähnliche Wohngruppe gründen kann, denn Leerstand gibt es in den Dörfern immer.
Ihr Pensum ist enorm: etwa 200 Reisen und Vorträge pro Jahr. Was motiviert Sie?
Ich bin unterwegs an die bürgerschaftliche Basis, um einfach zu gucken, wie man das Potenzial des in jedem Bürger vorhandenen Nachbarschaftsgens wieder wachküsst. Und das macht so einen Riesenspaß, weil man mit Händen greifen kann, wie man mit ganz wenig Aufwand Leute auf Ideen bringt und so zum Wandel des Hilfesystems und damit der Gesellschaft ein kleines bisschen beiträgt. Ich erlebe das als Geschenk, weil ich nie vermutet habe, dass ich das noch erleben könnte. Das bringt mich in die Lage, jede Menge Stress auszuhalten.
Sehen Sie Ihre Frau noch?
Es kann sein, dass ich gestern bei Frankfurt zu tun hatte und dann trotzdem noch zurückfahre. Dann komme ich um Mitternacht in Hamburg an, kann wenigstens noch eine Stunde mit meiner Frau zusammensitzen, und morgens um fünf oder sechs Uhr muss ich schon raus, weil ich nach Mainz muss. Mit der Bahncard 100 ist sowas gut möglich.