: Geschichte und Geschichten
Kopfsteinpflastergassen und prächtige Stadttore erzählen in Danzig vom guten alten Europa. Wirklich alt ist hier allerdings kaum etwas: Die vom Krieg zerstörte Altstadt wurde nach 1945 wieder aufgebaut. Zur Denkmalpflege kommt der Naturschutz
VON LARS KLAASSEN
Auf der Ulica Mariacka, der Frauengasse, schlendern die Touristen zwischen Souvenirständen, Handwerksläden, Bernsteinwerkstätten und Galerien hindurch. In regelmäßigen Schüben passieren größere Reisegruppen. Wenn sie an den Stand von Rajmund Stremel kommen, werden sie – wie alle anderen auch – von ihm angesprochen. Er verkauft hier Reiseführer, Postkarten und kaschubische Stickereien seiner Frau. „Seit der EU-Mitgliedschaft kommen sehr viele Besucher mit Schiffen und Billigfliegern in die Stadt“, erzählt der Danziger in fließendem Deutsch. „Nicht die einzige Fremdsprache“, die er so gut beherrsche, antwortet er auf verblüffte Reaktionen. Stremel ist nicht der Einzige in der Stadt, der sich in den vergangenen Jahren auf die internationalen Gäste eingestellt hat. Aber einer, der dies besonders konsequent tut. Er macht Führungen durch die Stadt und ins Umland. Das Schild mit der Aufschrift „Zimmer frei“ rundet die Palette ab (Weitere Infos: www.wakacje.pl/zimmer). Wer sich bei Stremel einquartiert, bekommt von ihm mit dem Frühstück auch Geschichten über Danzig serviert.
Geschichten und Geschichte suchen viele Besucher in Danzig. Kopfsteinpflastergassen, prächtige Stadttore sowie Gebäude im Stil des holländischen Manierismus und der Renaissance erzählen vom guten alten Europa. Wirklich alt ist hier allerdings kaum etwas. Die Altstadt war 1945 zu 90 Prozent zerstört. Nach dem Krieg wurde sie nach alten Vorlagen akribisch und originalgetreu wiederaufgebaut. Wer heute durch die Frauengasse spaziert, eine der schönsten der Stadt, wird aber nicht bloß in die Vorkriegszeit des frühen 20. Jahrhunderts, sondern gleich bis ins 16. Jahrhundert zurückversetzt. Seit jener Zeit entstanden die terrassenartig erhöhten Vorbauten, die so genannten Beschläge, denen die Ulica Mariacka ihre Berühmtheit verdanken. Diese zur Straße erweiterten Speicherkeller waren großteils schon im 19. Jahrhundert wegen Platzmangels abgerissen worden. Heute ist die Frauengasse historischer als vor 100 Jahren.
„Denkmalpflege“ in anderer Hinsicht hat in Danzig zu jener Zeit seinen Anfang genommen: Die staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen, die 1906 hier ihre Arbeit begann, gilt als Geburtsstunde des Naturschutzes in Deutschland. Als der Botaniker Hugo Conwentz mit drei Planstellen seine Arbeit begann, betrachtete sich der Staat erstmals zuständig für Naturschutz und Landschaftspflege. Daraus wurden Dutzende von Bundes- und Landesministerien, Forschungs- und Hochschulinstituten.
Nordwestlich vom Geburtsort des Naturschutzes befindet sich der Slowinski-Nationalpark. Er zieht sich fast 35 Kilometer entlang der Ostseeküste. Auf 180 Quadratkilometern erstreckt sich ein Mosaik aus Sandheiden, würzig duftendem Kiefernwald, einsamen Stränden, Erlenbrüchen und zahllosen sumpfigen Seen. Die „polnische Sahara“, Wanderdünen, die 42 Meter über dem Meer aufragen, sind die Folge eines frühen ökologischen Sündenfalls: Vor rund 800 Jahren holzten die Einheimischen hier Eichenwald ab, der zwischen Küste und Lagunenseen wuchs. Der Seewind setzte den Sandstrand landeinwärts in Bewegung, türmte ihn auf, sodass der gelichtete Wald verschüttet wurde. Die Dünen begruben ganze Dörfer unter sich.
Eine andere Attraktion der Küstenlandschaft um Danzig liegt östlich der geschützten Weichselmündung am Frischen Haff in einem hoch aufragenden Kiefernbestand: eine stark zunehmende Kolonie aus Kormoranen mit über 11.000 Brutpaaren auf 150 Hektar die größte Europas. Die Fischer klagen über die Vögel, weil sie sich täglich zentnerweise Nahrung aus der Ostsee holen. Die Kormorane schaden auch dem Wald. Für den Bau ihrer Horste brechen sie massenhaft Kiefernbüschel ab, und der Ammoniak aus ihrem Kot setzt dem sandigen Boden stark zu. Rund zehn Jahre lang halten die Bäume das aus, dann kommt das Waldsterben. Bislang ist das Gleichgewicht noch gewahrt, die Artenvielfalt beeindruckend: Seeadler, Seeschwalben, Graureiher, Austernfischer und Sandregenpfeifer lassen sich hier beobachten.
Wie bei der Rekonstruktion der Altstadt wird auch für den Naturschutz gehörig Manpower aufgeboten. In Polen arbeiten meist um die 15 Mitarbeiter in einem Naturpark. In Deutschland sind es oft nur ein oder zwei. Das Engagement zahlt sich auch finanziell aus, die Zahl der Touristen stieg in den vergangenen Jahren stark an. Doch nicht jeder Gast ist gern gesehen, bloß weil er Geld bringt. „Es gibt viele unterschiedliche Besucher“, sagt Stremel vorsichtig. „Bestimmte mag ich lieber.“ Auf seinem Flyer spricht er speziell „Cultural Tourists“ an. Baukultur und Natur sollen schließlich geschätzt und erhalten werden. Wozu sonst die ganze Mühe?