: Letzte Wellen
Stille über dem Wasser: Zum Tod von György Ligeti, Skeptiker der Geschichte, Optimist der Komposition
Als Anfang der 90er-Jahre der „Eiserne Vorhang“ aufging und György Ligeti sich gerade in Niederösterreich von Herzbeschwerden erholte, ließ es sich der Meister nicht nehmen, für einen halben Tag aus dem Sanatorium auszureißen und hinüber nach Bratislava zu fahren: Die Unterstützung der dort neu gewonnenen Freiheit und die Teilnahme an einem (bislang singulär gebliebenen) Kongress über „Musik und Totalitarismus“ war ihm eine Herzenssache.
Sichtlich genoss Ligeti die Sprach-Polyphonie beim nächtlichen Umtrunk. Ein Interpret aus Perugia verhandelte, über die Köpfe der Näherstehenden hinweg, mit dem Tonsetzer eine Tempo-Frage auf Italienisch. Die slowakische Übersetzerin gurrte französisch; man sprach auch irgendwie deutsch; die französische Assistentin klärte seine Termine im allgemeinen Wirrwarr in englischer Sprache – und vollends blühte der alte Filou auf, als die Frau eines Schallplattenproduzenten mit ihm auf Ungarisch zu parlieren begann, der Sprache seiner Kindheit und Jugend.
Der Gang der Geschichte im 20. Jahrhundert hatte den eloquenten Ligeti zum Weltbürger gemacht. Im Mai 1923 wurde er, Kind jüdischer Eltern, in Dicscöszentmárton geboren, einer Ortschaft in Siebenbürgen (jetzt Tîrnàveni in Rumänien). Die Bedeutung der ungarischen Sprache, Kultur und im Besonderen der ungarischen Musik für seine Entwicklung hat er verschiedentlich betont: Er studierte in Budapest seit 1950 an der Franz-Liszt-Akademie, trieb – im Rahmen der staatlich vorgegeben Normen – „Feldforschung“ auf dem Gebiet der rumänischen Folklore, unterrichtete dann Musiktheorie. Auch wurde er „ministerieller Inspektor“, zuständig für Musikunterricht an den Schulen.
Früh regte sich Ligetis Interesse für außereuropäische ethnische Kulturen, insbesondere für die javanische und balinesische Gamelan-Musik. Seine ersten eigenen kompositorischen Arbeiten fielen unter das Verdikt der „formalistischen Musik“. Die Repressionen der Kulturfunktionäre weckten seinen Trotz. So, wie er zuvor der jüdischen Identität durch die Verfolgung gewahr geworden war – sein Vater und ein Bruder starben im KZ, er selbst konnte aus dem Arbeitsdienst der ungarischen Armee 1941 mit Mühe entkommen – begriff er sich nun dezidiert als modernen Künstler. Er nahm die Strapazen und die Risiken der Flucht auf sich: Nach dem katastrophalen Ende des Aufstands in Ungarn 1956 verließ er das Land. Er verlor dadurch, wie er sagte, seinen „Resonanzboden“.
Von Wien aus kam er durch Herbert Eimerts Vermittlung zum Studio für Elektronische Musik des WDR in Köln und stieß 1959 mit Orchesterstücken wie „Apparitions“ oder „Atmosphères“ in neue Luftschichten vor: der freie Flug führte ihn weit hinaus. Die Vokalbehandlung des Chorwerks „Lux aeterna“ von 1966 war so bemerkenswert wie zuvor das Orgelstück „Volumina“: Nach der Durchorganisation der Chromatik und der Klangfarben bei elektronischen Arbeiten wandte er sich neuerlich der Differenzierung der Harmonik zu. „Die einzelnen harmonischen Bildungen fließen allmählich ineinander über“, schrieb Ligeti zu „Lux aeterna“; es sei „wie eine Wasserfläche mit einem Spiegelbild, die sich langsam kräuselt; und wenn sie wieder glatt wird, ist bereits ein neues Spiegelbild sichtbar“. Es war alles andere als Zufall, dass Stanley Kubrick 1967 für die Musik zu seinem Film „2001: A Space Odyssey“ („Odyssee im Weltraum“) auf Ligetis avancierte Arbeiten zurückgriff, der damit auch ganz andere Hörer als bisher erreichte.
Sein Cellokonzert hielt Ligeti nicht zu Unrecht für ein Meisterstück – es folgte ein Doppelkonzert (für Flöte, Oboe und Orchester, 1972), ein Violinkonzert (uraufgeführt 1990 in Köln) und insbesondere ein (gleichfalls in Köln uraufgeführtes) Klavierkonzert. Nicht erfüllt haben sich die Ambitionen als Opernkomponist mit „Le Grand Macabre“ (1978), einem mit vielgestaltiger Musik versehenen surrealistischen Bilderbogen über das dekadente „Breughelland“, den wohlbeleibten Piet vom Fass und das heftig ineinander verkeilte Liebespaar Clitoria/Spermando, das den Weltuntergang in seinem Rammelplatz – einem verlassenen Grab – verschläft.
In den 90er-Jahren wünschte sich Ligeti sehnlich, dass Ungarn wieder „ein normales westliches Land wird“. Aber weil der Wiederannäherungsprozess so langsam vonstatten ging, verschob er die zeitweise geplante Rückkehr immer wieder. Die Traumata der nationalsozialistischen Judenverfolgung und des kommunistischen Terrors wirkten nach. Mit Handlangern und Schönrednern der Diktaturen mochte Ligeti nicht an einem Tisch sitzen. Anfang 1992 trat er daher, unmittelbar nach dem Beschluss der „En-bloc-Vereinigung“ der beiden Berliner Künstler-Akademien, unter Protest aus der West-Akademie aus und forderte vom Präsidenten Walter Jens die Neugründung der ästhetischen Ehrenlegion. Frei sollte die Welt sein, die sich er wünschte und für die er arbeitete.
Er blieb ein Skeptiker, der nicht an Dogmen zu glauben bereit war, und zugleich ein Optimist der kompositorischen Tat – ein produktiver und widerspruchsfreudiger Geist. Nun ist György Ligeti, einer der bedeutendsten Musiker des 20. Jahrhunderts, eingegangen in die materialistische Abteilung des Komponistenhimmels, in dem er einen dauerhaften Platz einnehmen dürfte. Er starb am Montag in Wien.
FRIEDER REININGHAUS