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Archiv-Artikel

Die Stimmungsmacher

Seitdem das Nationalteam von Trinidad & Tobago sein Quartier im niedersächsischen Rotenburg aufgeschlagen hat, schwelgen die Rotenburger in kollektiver Begeisterung. Denn die Trinis erwidern die Zuneigung, unter anderem, indem sie schon mal das örtliche Schützenfest stürmen. Ein Tagebuch

aus Rotenburg/WümmeANJA PHILIPP-KINDLER

Der Rotenburger Sportamtsleiter Reinhard Lüdemann trägt neuerdings rot. Ein rotes T-Shirt mit „I am a Soca Warrior“-Aufdruck. Ab und zu wickelt sich Lüdemann auch in eine rote Fahne mit schwarzweißem Diagonalbalken und lächelt verzückt. Er ist glücklich.

Reinhard Lüdemann gehört zu 22.000 glücklichen Menschen in Rotenburg, der Kreisstadt zwischen Hamburg und Bremen. „Mich rufen seit kurzem deutlich weniger Menschen mit dringenden Problemen an“, stellt auch Psychotherapeutin Karin Scholl fest. „Und wenn ich dann mal eine Sitzung mit jemandem habe, reden wir erst einmal über Fußball und die Trinis.“ Die Trinis haben die Rotenburger in einen kollektiven Rausch gestürzt. Seit der Ankunft der Fußballnationalmannschaft aus Trinidad & Tobago sind regelmäßig hunderte oder tausende Rotenburger auf den Beinen, um ihre Helden zu feiern. Ein Tagebuch.

4. 6. 2006: die Begrüßung. Über 3.000 Rotenburger stehen Spalier und bejubeln die WM-Kicker vor ihrem Quartier Landhaus Wachtelhof. Nach dem offiziellen Empfang der Stadt gewinnt das Team einen Spontan-Kick gegen die Gaukler des gastierenden Mittelaltermarktes mit 1:0. Die Mannschaft feiert mit den Rotenburgern auf dem Pferdemarkt. „Das ist alles unglaublich“, staunt T&T-Kapitän Dwight Yorke. Wachtelhof-Küchenchef Daniel Rundholz muss seine Menüplanung ein erstes Mal umschmeißen. Trini-Koch Cecil Wint hat eigene Bohnen und Linsen mitgebracht.

5. 6. 2006: Bürgermeister Detlef Eichinger hat einen neuen Spitznamen. Die Trinis nennen in ab sofort „Big D“. 200 Rotenburger und Gäste aus T&T fahren zum Freundschaftsspiel gegen den FC St. Pauli. Trinidad & Tobago gewinnt 2:1. Dem TV-Journalisten Douglas Brunton aus Trinidad wird der schwarz-weiß-rote Schal abgenommen. „Ein Pauli-Fan wollte ihn unbedingt haben. Da haben wir getauscht. Jetzt habe ich seinen.“

6. 6. 2006: der Fahrradständer am Ahestadion ist belegt. Ab heute radeln die Trinis zum Training. Gerüchte machen die Runde, dass die Kicker demnächst zum Training reiten wollen.

7. 6. 2006: Wachtelhof-Chef Jörg Höhns leidet an Stimmverlust. „Nach dem Pauli-Spiel war die Stimme plötzlich weg“, flüstert er beim öffentlichen Training. Mehr als 3.000 Rotenburger und 100 Journalisten sehen beim Training zu. „Ist es ein Wunder, dass sie hier sind?“, fragt ein belgischer Pressemensch T&T-Coach Leo Beenhakker. „Nein, kein Wunder. Wir sind ganz normal mit dem Flugzeug hergekommen.“ Hotelkoch Rundholz und sein Trini-Kollege Wint verstehen sich schon besser und spielen Tennis.

10. 6. 2006: T & T spielt 0:0 gegen Schweden in Dortmund. Nach Mitternacht feiern 250 Rotenburger und Trinis das Team bei der Rückkehr am Wachtelhof. Die Unterstedter Karibik-Gäste stürmen das örtliche Schützenfest. Die Saal-Kapelle räumt die Bühne, es wird Soca getanzt.

11. 6. 2006: Reinhard Lüdemann wird Weltmeister. Er gewinnt die Torschrei-WM auf dem Marktplatz mit 108 Dezibel. 400 karibische Gäste mischen sich unter das Rotenburger Volk. Die Mannschaft sitzt im Café Hollmann.

13. 6. 2006: Ein aus Mosambik stammender Bremer weiß nicht, wie ihm geschieht – in der Rotenburger Fußgängerzone werden Autogramme von ihm gefordert. Es gilt: Schwarz = Trini.

Staatspräsident Maxwell Richards aus T & T steigt in Jeans und Turnschuhen aus einem Bummelzug. Später begrüßt er Landsleute vor einem Eiscafé. Die Personenschützer raufen sich die Haare. Bürgermeister Detlef Eichinger schwitzt: „Da kriege ich einen Anruf vom Wachtelhof: ‚Der Staatspräsident ist da.‘ Ich denk nur: Wieso das denn? Da war doch gar nichts angemeldet. Oh Gott, und ich sitz hier im ollen Polohemd. Doch dann hab ich ihn gesehen und dachte mir: Gottseidank, das passt ja.“

15. 6. 2006: 1.200 Rotenburger sind begeistert. Bis Peter Crouch den Ball in der 83. Minute zum 1:0 für England im Tor versenkt. Viele sehen das 2:0 auf der Großbildleinwand schon gar nicht mehr mit an. Eine halbe Stunde nach Mitternacht stehen 250 Rotenburger vor dem Hotel Wachtelhof und singen mit T&T-Soca-Star Chris Garcia „Deutschland, Deutschland. Here come the Soca Warriors“. Die Mannschaft steigt müde aus dem Team-Bus und ist gerührt.

16. 6. 2006: Die Soca Warriors spielen Cricket im Ahestadion. Superintendent Hans-Peter Daub trägt einen Trini-Schal in der Stadtkirche. Von der Kanzel weht die T&T-Fahne. 850 Rotenburger singen mit dem Kirchenchor, diversen Akkordeonspielern, dem Rotenburger Gospelchor und der Trini-Steel-Band Ebony „Amazing Grace“.

17. 6. 2006: Sportamtschef Reinhard Lüdemann wohnt nun schon seit 15 Tagen bei seiner Freundin. Die eigene Wohnung hatte er für Douglas, Dilys und Barbara-Anne aus T&T geräumt.

18. 6. 2006: Über 1.000 Rotenburger und Trinis dribbeln rund um den Weichelsee. 7.777 Kilometer sollen zusammenkommen. So weit ist es nach Trinidad. 6.000 Menschen feuern sie an, aber sie schaffen nicht mal die Hälfte. Die Unterstedter Trinis versprechen, den Rotenburgern demnächst von Trinidad aus entgegen zu dribbeln.

19. 6. 2006: Das Team fährt nach Kaiserslautern zum letzten Vorrundenspiel gegen Paraguay. Es geht um alles oder nichts: T & T muss gegen Paraguay gewinnen, gleichzeitig muss Schweden gegen England verlieren. Würde das passieren, käme es zuletzt in der Tabelle auf das Torverhältnis an.

20. 6. 2006: Der Wunschtraum: T&T zieht heute mit einem 3:0 ins Achtelfinale der Fußball-WM ein. Kurz vor Mitternacht wird Reinhard Lüdemann zum Sportamtschef von Trinidad & Tobago ernannt. Psychotherapeutin Karin Scholz weiß, dass sie ab sofort gar keine Kundschaft mehr in Rotenburg haben wird und verlegt ihre Praxis nach Bremen.