: 100 Jahre Pop
Der Entzug der Substanz ermöglicht Genuss ohne einen Gedanken an Reue: Das ist die Formel des Pop. Und das Geheimnis von Kaffee HAG, der Bremer „Ohne“-Marke, die heute vor 100 Jahren das Licht des Marktes erblickte und damit einen Jahrhunderttrend begründete
von Benno Schirrmeister
Kaffee HAG ist Pop. Das ist ein Satz mit Folgen. Denn, wenn Kaffee HAG Pop ist, dann wurde Pop vor 100 Jahren geboren. Und Bremen ist die Wiege des Pop. Das sind natürlich alles sehr fragwürdige Thesen, weil man zum Beispiel Bremen und Pop nicht so ohne Weiteres in Verbindung gebracht hätte. Jaja, schon gut, Sven Regener, wissen wir, okayokayokay, aber das ist halt die Regel vom blinden Korn, das auch einmal gepickt wird. Noch fragwürdiger ist die Sache mit der Geburtsstunde: Kann etwas so vielschichtiges und letztlich undefinierbares wie Pop überhaupt eine klar benennbare Geburtsstunde haben? Das wissen wir nicht. Aber wenn, dann ist die Gründung der Kaffee Handels-Actien-Gesellschaft am 21. Juni 1906 in Bremen allererster Anwärter darauf. Denn Kaffee HAG ist Pop.
Wieso eigentlich? Die meisten würden sagen, Pop gibt es erst seit, naja, so – guten 50 Jahren. Aber die meisten sind natürlich Ideologie-Opfer: Pop nicht vor 1945, das bedeutet: Da ist mal was ganz Unbelastetes entstanden, ein echter Neuanfang. Fein vor allem fürs linke Selbstbewusstsein, das sich gerne in der Nische des emanzipatorischen, vom Widerständigen und Undergroundigen ausgehenden Pop heimisch gefühlt und eingerichtet hat. Kritischer Theorie hält die Fiktion vom idyllischen Rückzugsgebiet freilich schon lange nicht mehr stand, und „dass auch die Popkultur verwurzelt ist in einer bestimmten Tradition des deutschen Bewusstseins“ vertritt beispielsweise der Herausgeber des Magazins Testcard, Roger Behrens beharrlich. Wo deren Ursprung liegt, weiß er auch nicht so genau. Jedenfalls verortet er ihn „weit in der vorfaschistischen Zeit“.
Schwerer wiegt der Einwand, dass das Image nicht passt. Denn das Image ist im Pop eine der Hauptsachen, die Jugendlichkeit – gekoppelt an den Gestus der Revolte – rangiert in der Werteskala ganz oben. Und obwohl sich der jetzige Markeninhaber kräftig müht, sein Produkt in Werbespots soignierten Enddreißigern in die Hände zu drücken, will es ihm doch nicht gelingen, es den herz- und zuckerkranken Tantchen zu entreißen. Die prägen weiterhin das Bild, das man von koffeinfreiem Kaffee so hat.
Kein Mitleid mit Kraft! Als der Global Player die schwindend-populäre Marke in den 1970ern aufgekauft hat, hat man sich das Aroma der Ältlichkeit schließlich selbst eingeschenkt – spätestens mit dem Slogan „Für mich einen Kaffee Hag, bitte…!“, der in den 1980er-Jahren die Figur des selbstbewussten Schonungsbedürftigen schuf. Ausbaden muss das bis heute das Ömchen. Szene im Restaurant: Die Schwiegertochter hat die Karte studiert, damit die Lesebrille nicht mühsam rausgekramt wird. Nach dieser symbolischen Entmündigung blickt sie nun auf und sagt, als hätte sie eine plötzliche Eingebung: „Du, die haben hier auch Kaffee HAG!“ Und dabei legt sie so viel Sorge und Begeisterung in die Stimme, dass niemand an die Echtheit der Gefühle glauben mag. Ömchen hätte vielleicht lieber einen Racke Rauchzart gewählt. Sie ist hiermit verurteilt Kaffee HAG zu trinken. Danach kommt nur der Tod.
Nur: Das ist heute. Und was heute ist, kann auch ein rein phänotypischer Irrläufer sein. Nach 100 Jahren ist das sogar sehr wahrscheinlich. Und falsch wäre es, Alterungs- und Verfallserscheinungen mit der Tiefenstruktur zu verwechseln. So kann auch niemand von den Rolling Stones, wie sie heute sind, darauf schließen, was sie einmal bedeutet haben für die Geschichte des Pop. 1906 jedenfalls sind Kaffeehäuser Avantgarde-Treffs. Wer etwas verstehen will, muss schon von den Anfängen her denken.
Was Kaffee HAG am Anfang war, lässt sich beantworten, weil Kraft Foods im Bremer Temmen-Verlag zum Jubiläum ein Buch herausgegeben hat. Das Werk heißt schlicht „100 Jahre Kaffee HAG“, beantwortet auf gut 260 großformatigen Seiten so ziemlich alle historischen Fragen zur Marke nebst Töchtern und ist so vorbildlich gelungen, dass man glatt für einen Moment daran denkt, als Anerkennung in absehbarer Zukunft einmal eine Box Frischkäse zu kaufen. Bleibt also nur noch die Aufgabe, die historischen Befunde mit dem kurzzuschließen, was den Namen Pop verdient.
Denn es ist ja nicht nur diese eine, blöde Analogie, auf die man auch ohne geschichtswissenschaftliche Hilfe gekommen wäre: Dass nämlich Pop und Kaffee HAG denselben – schluck, wie sag’ ich’s meinen Kindern – antisubstanzialistischen Ansatz teilen. Das ‚Wesentliche‘ des Pop: Das Wesen gibt es nicht. Die Oberfläche ist schon alles. Eine vermeintliche Substanz dahinter – Pustekuchen. Bei der Droge Kaffee ist die Essenz das Koffeein: Der erste Schritt zu Kaffee HAG war, die Droge von ihrem wirksamen Bestandteil zu trennen. Die Idee: Eine Droge ohne Droge anzubieten.
Nun kann man sagen: Aber Hoppla!, die Betäubungsmitteltoten der Pop-Geschichte sind doch Legion. Stimmt. Und es wäre Haarspalterei darauf hinzuweisen, dass Kaffee ja eben alles andere als eine betäubende Wirkung hat. Aber der Punkt ist, dass der Entzug der Substanz hier wie da den Konsum ohne Reue ermöglichen soll. Im Pop gibt es keine Instanz – außer dem Körper –, die die Anwendung von sex and drugs zur Sünde erklären würde. Wer sich derart des schlechten Gewissens entledigen kann, hat keine Angst to die before get old. Und nur für den ist es erträglich to be forever young. Ein sanftes Ruhekissen ist auch Kaffee HAG denn er „verursacht keine Schlaflosigkeit“, wie es schon 1910 die Zeitungsannoncen versprechen. Und dort, wo Verfehlungen einzugestehen wären, empfiehlt sich die Marke durch die salvatorische Macht des Substanz-Entzugs: „Wer keinen Sport treibt“ – so empfiehlt 1934 ein fescher Sportlehrer in der Werbung – der „sollte wenigstens Kaffee Hag trinken“. Dann bekommt er nämlich „stahlharte Nerven“.
Noch Zweifel? Dann hilft die Gegenprobe: Welche Neuerungen können der Popkultur auf dem Lebensmittelsektor zugeordnet werden? Entfettetes Fett, Coca Cola light, und Thomy ohne Cholesterin. Logisch: Diät ist ein Luxusphänomen, Diät-Produkte hingegen ein Zeichen dafür, dass etwas, was früher für die happy few reserviert war, nun der Masse zugänglich ist, industriell, also seriengefertigt, ein marktgängiges Handelsgut.
Die kritische Theorie hat das vor allem an der elitären Kunst-Produktion beobachtet, und mit sehr viel Argwohn festgestellt, dass „alle Kultur zur Ware“ wird. Was wiederum nach wie vor als brauchbare Umschreibung für den Begriff Pop gilt. Ein Symptom dieses Prozesses, den man auch als Demokratisierung bezeichnen kann, ist die Marke.
Kaffee jedenfalls ist das ganze 19. Jahrhundert hindurch noch ein Luxusgut. Und Marken haben um 1900 noch Seltenheitswert. Die ersten Markennamen sind einfach nur die Eigennamen der Hersteller: Jacobs, Leitz, Opel oder Maggi. Kaffee HAG hätte dann Roselius-Kaffee heißen müssen. Tut er aber nicht. Stattdessen steht der Name nur für eine Handels-Aktiengesellschaft. Fürs Kollektiv. Das ist glatte Absicht, denn Ludwig Roselius, der Erfinder des Entkoffeinierungsverfahrens, hatte sogar ein anderes Kunstwort schützen lassen. Und das hätte viel besser auf die Besonderheit des Produkts verwiesen: Onko, die spätere Zweitmarke des Konzerns, steht für „Ohne Koffein“. Dass Onko heute für einen ganz normalen, unkastrierten Mittelklassekaffee steht ist ungefähr so sinnvoll, wie mit der Zunge E-Gitarre zu spielen.
Aber zurück zu HAG, diesem Platzhalter der Anonymität, der sich, gerade weil er nichts vorgibt, so vorzüglich dafür eignet, eine künstliche Identität herzustellen. In der soll sich nach Möglichkeit jeder wiederfinden. Vor allem aber die, die zur Avantgarde gehören wollen. Denn da lässt der Mann nichts anbrennen: Ab 1907 hat er zwei Architekten und Gebrauchsgrafiker ins Unternehmen geholt – als künstlerische Leiter der Werbeabteilung. Den Posten eines künstlerischen Leiters gibt es zur gleichen Zeit nur noch bei der in vielerlei Hinsicht vergleichbaren AEG. Dort bekleidet sie der Architekt Peter Behrens und seine Komplettgestaltung des Unternehmens gilt als der Beginn des Designs. Ja, AEG ist wirklich sehr nah dran, auch Pop zu sein. Aber bei der Allgemeinen Elekticitäts Gesellschaft wäre nie jemand auf die Idee gekommen, stromfreies Elektrogerät herzustellen. Das Design steht dort für die Produkte.
Bei Kaffee HAG steht es für sich. Und das Image ist alles: „Bereits von Beginn an“, beschreibt Designhistoriker Hans Georg Böcher diese „Markeneinführung, ohne Vorbild“, seien „alle Packungen und Werbeträger durch ein eigens kreiertes, neuartiges Logo gekennzeichnet“ gewesen. Und beim Vertrieb galten strenge Gesetze: „Wer sich nicht an die Vorgaben hielt“, so Lars Oldenbüttel, „wurde von Roselius schlicht nicht beliefert.“ Den Höhepunkt seiner Image-Produktion erreicht das Unternehmen 25 Jahre nach der Gründung: Roselius kauft die Böttcherstraße und lässt sie teils altfränkisch, teils expressionistisch umbauen. Ein paar befreundete Zeitgenossen haben das ganze Bauvorhaben als „Propaganda“ verstanden. Und Rainer Stamm, Direktor der dortigen Kunstsammlungen, hat sie einmal als Vorgriff auf Las Vegas beschrieben.
Das hat, wie jeder Pop, auch etwas Emanzipatorisches: Im Unternehmen sind die Hierarchien flach – unterhalb des Patriarchen wenigstens. Und „Herkunft und bisheriger beruflicher Werdegang“ hätten für die jeweilige Position „eine eher untergeordnete Rolle gespielt“, bemerkt Lars Oldenbüttel. Das Zitat des Chefs zu diesem Sachverhalt: „So kommt es denn, dass ein Kapitän Prokurist, ein Musiker Buchhalter, oder umgekehrt ein Kommis Maler oder Sänger bei mir geworden ist.“ Die Auflösung der Klassengesellschaft im Betrieb also.
Was nicht heißt, dass Roselius ein Widerständler gewesen wäre. Das wäre falsch, im Gegenteil: Roselius, Sohn eines Neureichen, ging es darum, in den pfeffersackigen Patrizierkreisen zu reüssieren. Was ihm nie gelungen ist. Vom völkischen Virus war er mehr als nur infiziert, bei den Nazis hat er mitgemacht. Und ob er Zwangsarbeiter beschäftigt hat, weiß bislang niemand: „Nachforschungen, die vom heutigen Unternehmen ausdrücklich gewünscht und unterstützt wurden“, heißt es im 100-Jahre-Buch, „führten zu keinem klaren Ergebnis.“ Aber das war schon angedeutet gewesen. Pop ist wirklich kein unbelasteter Neuanfang. Er ist es nie gewesen.
Bärbel Kern, Katrin Laskowski, Silke Puls: 100 Jahre Kaffee HAG, Edition Temmen, 260 Seiten, 22,90 Euro