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Archiv-Artikel

Lina Ben Mhenni

TUNESISCHE STIMMEN 1 Die Bloggerin: sich von den Ketten der Tradition befreien

INTERVIEW RENATE FISSELER-SKANDRANI

Über sich Ich bin Tunesierin und Weltbürgerin. Ich denke, dass wir in Tunesien noch nicht als wirkliche Bürger betrachtet werden. Ich fühle weiterhin, dass wir von Entscheidungen ausgeschlossen sind, dass wir nicht über alle unsere Rechte verfügen können. Ich kämpfe dafür.

Kurzbio: Lina Ben Mhenni, geboren 1983, arbeitet als Dozentin für Englisch an der Universität Tunis. Die Internetaktivistin in den Monaten vor dem Fall der Diktatur wurde zur Stimme der tunesischen Revolution. Ihr Block „A Tunisian Girl“ erlangte weltweite Verbreitung. 2011 wurde sie für den Friedensnobelpreis nominiert. Für ihr Engagement hat sie internationale Preise bekommen. In ihrem Buch „Tunisian Girl. Blogueuse pour un printemps arabe“ (2011), erschienen auf Deutsch („Vernetzt euch“) berichtet sie über ihr Engagement als Cyberaktivistin in der tunesischen Revolution.

Was bedeutet für Sie Emanzipation?

Für mich ist Emanzipation, sich von den Ketten zu befreien, die die Gesellschaft und gewisse Traditionen uns aufgezwungen haben. Es gibt Dinge, die man uns heute aufdrängt unter dem Vorwand, dass die Tradition respektiert werden muss. Tatsächlich zeigt sich unsere Gesellschaft immer maskuliner, konservativer. Vor dem Fall der Diktatur habe ich mir nie vorgestellt, dass ich von neuem für gewisse Bereich meiner persönlichen Emanzipation kämpfen müsste. Ich habe beispielsweise meine Rechte als Frau als gegeben angenommen. Leider ist das nicht der Fall. Trotz der Tatsache, dass mein Name auf Todeslisten steht und ich Polizeischutz habe, äußere ich mich weiter. Ich kämpfe mit meinen Texten.

Wer oder was hat Ihre eigene Emanzipation beflügelt?

Mein Vater. Er hat mich darin bestärkt, eine selbstständige Frau zu sein. Mein Leben so zu leben, wie ich es will. Ich bin groß geworden mit Büchern, wir sind ins Theater gegangen, in Konzerte. Auf diesem Wege habe ich mich geistig frei entwickeln können.

Was heißt für Sie Emanzipation in persönlichen Beziehungen?

Es geht nicht nur darum, seinen eigenen Wünschen, Bedürfnissen nachzukommen. Man muss auch an die anderen denken. Man hat Rechte, aber auch Pflichten.

Was bedeutet für Sie die Emanzipation Tunesiens?

Tunesien hat die Erfahrung der Revolution gemacht, die die Befreiung von der Diktatur bringen sollte. Der Kopf des Regimes ist weg, aber das System selbst ist immer noch da. Es gibt sogar eine gewisse Regression. Aber das spornt mich an. Ich finde mich heute in einer Gesellschaft wieder, die sich als sehr konservative Gesellschaft herausstellt. Ich entdecke eine Mentalität, die ich vorher nicht kannte. Das tunesische Volk hat immer unter Diktaturen gelebt. Heute emanzipieren sich die Tunesier, jeder auf seine Weise. Manche emanzipieren sich auf fortschrittliche Weise, sie öffnen sich, sind weltoffen und tolerant. Andere emanzipieren sich auf rückschrittliche Weise, indem sie die Regression, den Obskurantismus wählen. Für mich ist das auch eine Art, sich von der Diktatur zu emanzipieren. Ich denke, dass wir trotzdem auf dem Weg sind, uns gesellschaftlich zu emanzipieren.