: Zerschneiden ist das neue Schwarz
MODE Am Dienstag startet die Berlin Fashion Week. Einer der Trends: Upcycling. Die Entwürfe sind nachhaltig und treffen den Zeitgeist
■ Upcycling Fashion Store: Mit vielen Berliner und internationalen Labels wie Milch oder Globe Hope, Daniel Kroh, Aluc. Hier kann man auch immer gebrauchte Kleidung direkt abgeben. Kontakt: Mo–Fr 11 bis 19 Uhr, Sa 12 bis 19 Uhr, Anklamer Straße 17, 10115 Berlin upcycling-fashion.com
■ Water and Wine: Mode und Accessoires, aus Ballonseide, Zeltplane und Co., entworfen teils in Kooperation mit der Stadtmission. Kontakt: Mo–Sa 11 bis 19 Uhr. Auguststraße 82, 10117 Berlin berliner-stadtmission.de/komm-und-sieh
■ Schmidttakahashi: Die Stücke des Designer-Duos gibt es teilweise im eigenen Onlineshop oder bei Oukan, Kronenstraße 71, 10117 Berlin. Regelmäßig stellen sie auch Sammelcontainer auf, weitere Infos siehe Homepage: www.schmidttakahashi.de
VON ANNE HAEMING
„Das hier ist wie ein Schatz“, sagt Arianna Nicoletti und deutet mit so viel Schwung auf ein paar Pappkartons, dass ihre großen Ohrringe schaukeln. Die Kisten stehen auf einem staubigen Boden zwischen Metallregalen. In den dunklen Kellerraum der Berliner Stadtmission um die Ecke vom Hauptbahnhof fällt nur ein wenig Licht durch ein kleines vergittertes Fenster.
Der Schatz: dunkelblaue Blusen. Drei Kisten voll, immer die gleiche, in unterschiedlichen Größen. Ein Restaurant musste schließen oder hat sich einen neuen Look verordnet, egal, nun sind die Hemden hier. Bei ihr.
Arianna Nicoletti ist seit einem Jahr bei der Stadtmission angestellt, um Designern auf Bestellung aus dem Berg an Altkleidern, die nicht an Obdachlose gehen, Material zusammenzusuchen. Upcycling nennt sich das Prinzip: mach Neu aus Alt. „Viel von einer Sorte“, sagt Nicoletti, „das ist ein Volltreffer.“
Die Nachhaltigkeitsdebatte hat die Mode schon vor Jahren erreicht. Seit 2013 in Bangladesh mehrere Fabriken einstürzten, in denen Näherinnen für ein paar Cent Klamotten für internationale Marken herstellten, ist die Debatte um bewussten Kleiderkonsum noch mehr im Fokus.
Auch bei der Berlin Fashion Week haben sich etwa der Green Showroom und der Showfloor Berlin als feste Größen etabliert. Aber Ökomode ist mehr als Kleidung aus gentechnikfreiem, unbehandeltem, fair gehandeltem Stoff. Secondhandkleidung wird beim Upcycling ebenso verarbeitet wie Lagerreste eines Modelabels oder Stoffverschnitt, der bei normaler Massenproduktion anfällt. Natürlich gibt es das nicht nur in der Mode, auch Möbel und Schmuck werden upgecycelt.
Das Konzept passt in die Zeit: Die Strategie des Remixens gehört zur Popkultur des 21. Jahrhunderts, egal ob in Musik, Kunst oder Literatur. Nun also Mashup-Mode.
Dass Arianna Nicoletti nun zwei Mal die Woche in jenem Kellergeschoss Kleidung sortiert, zeigt, welchen Stellenwert Upcycling in der Berliner Modewirtschaft mittlerweile hat: Sie stellt die Versorgung sicher – Materialnachschub ist die größte Herausforderung. Die 26-Jährige gibt den Strukturen dieser Designgattung ein Gesicht.
Die Italienerin hat in Urbino Modedesign studiert – elementar für den Sortier-Job: „Nehmen Sie diesen Pulli hier“, sie greift einen rotweinfarbenen Wollpullover vom Tisch. „Der ist schon etwas zerschlissen, für die Obdachlosen kann er nicht mehr benutzt werden. Aber er ist von Lacoste. Das ist Super-Qualität.“ Früher hätten die Sortierer ihn weggeschmissen. „Dabei kann man ihn auftrennen, die Wolle waschen und etwas Neues daraus machen.“
Die Bedeutung des Branchenzweigs ermisst sich auch an den gewachsenen Strukturen. Mittlerweile gibt es in Berlin gut 20 Designer, die nach diesem Prinzip arbeiten, darunter das Duo Schmidttakahashi, das seine Entwürfe schon bei der Paris Fashion Week gezeigt hat und Mode macht, deren Vergangenheit man auch auf den zweiten Blick nicht vermutet. Oder Philippe Werhahn, der für Kunden auch mal den Inhalt ihres Kleiderschranks neu zusammennäht. Außerdem gibt es zwei Läden, die ausschließlich Upcycling-Mode aus der ganzen Welt verkaufen, einen davon betreibt die Berliner Stadtmission seit Oktober. Und die Berliner Modedesign-Studiengänge bieten bereits Spezialisierungen an: An der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) gibt es Projekte wie Create the Waste; an der Esmod kann man seit 2011 gar einen Master in Sustainability in Fashion machen, ab Herbst bietet sie zwei Klassen an.
Die Szene ist eng verstrickt. Eine HTW-Abgängerin leitet den Stadtmission-Laden in Mitte, der wiederum wurde kuratiert von Luise Barsch, einer der Gründerinnen des Upcycling Fashion Stores, die zusammen mit Nicoletti und einem Kollegen das Label Aluc betreibt, für das sie Hemden aus Stoffen nähen, die wegen Webfehlern keiner will. Einmal im Monat gibt es dort ein Netzwerktreffen. So kam auch die Kooperation mit der Stadtmission zustande. Und Nicoletti zu ihrem Zweitjob.
Bei ihr im Souterrain ist es verdammt unglamourös. Wegen der Heizungsrohre ist es so warm, dass man sich am liebsten ausziehen würde. Das ganze Glitzerglimmergetue, das immer an der Fashion Week klebt, ist kommende Woche zwar nicht mal zwei Kilometer von diesem Keller entfernt, aber das einzige, das hier strahlt und blitzt, sind die großen dunklen Augen von Arianna Nicoletti, die unter ihrem Pony hervorschauen. Man merkt, sie hat eine Mission.
Am Anfang hatte sie zehn Designer als Kunden, inzwischen bestellen über 30 regelmäßig bei ihr – längst nicht nur Berliner. 200 schwarze Jeans, stapelweise weiße Bademäntel, Kartons voll mit alter Bettwäsche, 100 Prozent Baumwolle, guter Stoff. Die Designer kommen an gutes Material in guter Qualität. Die Berliner können ihre Kleiderschränke ausmisten und wissen, dass die Kleider nicht in der Müllverbrennung landen oder teuer nach Afrika verkauft werden. Der Preis richtet sich nach Gewicht: ein Euro pro Kilo Baumwolle, zehn für die Lederjacken. Win-Win-Win.
Genug Stoff gibt es ja: 32 Tonnen Alttextilien fielen in Berlin allein 2010 an, laut einer Studie der Senatsverwaltung für Wirtschaft und Umwelt. Es ging darum, wie eine „vorbildhafte, umweltfreundliche Abfallentsorgung“ in Berlin aussehen könnte. Das interessante Detail: 60 Prozent werden weiterverwendet, allein 43 Prozent landen in Secondhandläden. Die umweltbewusste Methode, Abfall zu verwerten ist der Grundgedanke der Szene. „Deutschland hat so viel Upcycling-Potenzial, weil die Sammlungsstätten so gut organisiert sind“, sagt Nicoletti. In Italien gebe es so etwas nicht.
Lederjacken für London
Dank ihr wird nun auch das Bündel Krawatten immer dicker. „Die sind immer aus 100 Prozent Seide“, sagt Nicoletti und streicht über die wild gemusterten Binder. „Die behalte ich grundsätzlich, irgendwer wird sie schon nehmen.“ Natürlich zeichnen sich bei den Bestellhaufen auch aktuelle Modetrends ab: ein Turm Karohemden liegt rum, ein Regal ist voller Lederjacken. Die gehen nach London. Und der Stapel Spitzenvorhänge nach Finnland, zum Upcycling-Vorreiter Globe Hope, einer der Großen der Branche. „Das hier ist für Philippe Werhahn“, Nicoletti zeigt auf Jogginghosen, Sweater.
Werhahns Label „Tingding“ sitzt in einem typischen Neuköllner Ladenlokal. Neben dem Verkaufsraum ist sein Atelier. Stapelweise liegt hier, was auch in „seinem“ Regal der Stadtmission auf ihn wartet.
2007 begann er, in Kenia Rot-Kreuz-Altkleider zurückzukaufen und organisierte dort an Schneiderschulen einen Aus-Alt-Mach-Neu-Workshop, ähnliches macht er regelmäßig in Bangladesh. „Mit dem Begriff Upcycling kann ich nichts anfangen“, sagt Werhahn. Er nennt sich „textiler Skulpturenbauer“. Seine Kunden sind vor allem Frauen über 30, „die gerne auf ihre Klamotten angesprochen werden“. Man kann auch sagen, man braucht Mut, seine Stücke auf der Straße zu tragen: Herrenhemden werden zu Trägerkleidern, nur von zwei Bändeln fixiert. Das meiste kostet 100 Euro. Neulich hat er für eine Frau die Kleider ihres verstorbenen Vaters zu neuen Stücken umgeschneidert.
Aber 100 Euro für eine alte Hose? Ein häufiges Missverständnis, klärt Luise Barsch auf. Seit zwei Jahren betreibt sie nun mit Kollegen den Upcycling Fashion Store in Mitte. Die Preise aller Stücke, die bei ihr im Laden hängen, sind weit von dem entfernt, was man bei H&M und Co. für ein Kleidungsstück rüberschiebt. „Allein die ganzen Kleider aufzutrennen kostet wahnsinnig viel Zeit“, erklärt Barsch, die selbst konsequent Secondhand trägt. „Und dann muss man sich ja auch noch genau überlegen, wie man einen Schnitt entwirft, der mit diesen Einzelteilen funktioniert.“ Auch die Einrichtung passt: Die Theke ist aus Altholz gebaut, Kleiderständer bestehen aus Fahrradteilen.
Im Herbst gewann der Laden den Fairhandels-Preis 2013, und jeder in der Stadt, der mit dem Thema zu tun hat, verweist erstmal auf Barsch und Co. Also griffen sie der Stadtmission unter die Arme, die im Oktober mit Water to Wine einen eigenen Laden mit Upcycling-Mode eröffnete. Der liegt nur fünf Radminuten entfernt – in der Touri-Ecke der Auguststraße. Wasser zu Wein: Hinter dem Laden der evangelischen Kirche steckt ein christliches Motiv. Schöpfung-Bewahren ist eben auch nur ein anderes Wort für Nachhaltigkeit.
Der Markt spiegelt den Output eines Trends, der sich längst auch auf das andere Ende, also die Designschulen niederschlägt. Im Namen der nachhaltigen Mode wird nun der gesamte Kreislauf Teil des Entwurfskonzepts: cradle to cradle, sagen Insider, von der Geburt bis zum Tod des Kleidungsstücks. „Das hat sehr großes Systemveränderungspotenzial“, sagt Friederike von Wedel-Parlow. Sie hat eine Professur an der Berliner Modehochschule Esmod und dort den Sustainability-Master initiiert, „ein Pionierstudiengang für Pioniere“. Als Designerin sind Entwürfe mit Zero-Waste-Pattern, bei denen jeder Quadratzentimeter Stoff verbraucht wird, ihre Spezialität.
■ Infos: Die Berliner Modewoche 2014 dauert vom 14. bis 19. Januar. Nachhaltige Mode, darunter auch viele Upcycling-Labels, gibt es etwa im Green Showroom (14.–16.), beim Showfloor Berlin (14.) und der Ethical Fashion Show (14./15.). Alle Adressen und Details: www.fashion-week-berlin.com/de/eco-fashion
■ „Upcycling Talents“-Show: 14. 1., 18 Uhr, Musik von Jim Raketes Band Neoangin, Upcycling Fashion Store (s. Kasten).
■ „Biomimetics“: 14.–18. 1. Upcycling-Ausstellung von Esmod-Modedesignstudenten, Ausstellungsraum der Kunstbibliothek, Matthäikirchplatz 6. Infos: www.esmod.de
■ „Leaving Traces“: 14.–16.: Ausstellung der Esmod-Kollektionen, die in Kooperation mit Hess Natur entstanden sind, Green Showroom. Infos: www.esmod.de
Upcycling-Fashion sei „viel mehr als ein Trend“, so ihre Einschätzung. „Das Segment ist zuletzt wahnsinnig gewachsen und zielt langfristig auf geschlossene Materialkreisläufe.“ Gerade lief an ihrer Schule eine Kooperation mit dem Ökomodelabel Hess-Natur, das Lagerreste als Rohstoff zur Verfügung gestellt hat. Für Wedel-Parlow stellt diese Mode eher einen ökologischen Prozess als ein ökologisches Produkt dar. Dass das gerade hier so boomt, wundert sie nicht, Nachhaltigkeit sei ein sehr deutsches Thema. Beim Telefonat gefragt, blickt sie an sich runter, sie trägt: eine Hose aus der Conscious Collection von H&M und eine Strickjacke aus einer eigenen Kollektion von 2007. Ihr ging es um übersaisonale Lieblingsstücke hoher Qualität, „ich habe mich nicht als Ökolabel empfunden“.
Das Image spielt beim Upcycling eben keine untergeordnete Rolle. Müslimäßig will ein Designer kaum wirken, Müll soll nicht die erste Assoziation sein. Aber dummerweise steckt im Wort nun mal „Recycling“. Dessen sind sich alle bewusst: Designer Philippe Werhahn spricht lieber von „Dekonstruieren“. Luise Barsch und ihre Kollegen vom Upcycling Fashion Store betonen, dass sie in ihrem Laden nur Labels verkaufen, deren Stücke einen bestimmten ästhetischen Level haben: „Wir können nichts verkaufen, dem man ansieht, dass es mal Verpackung war.“
Problem mit dem Image
Die beiden Frauen hinter dem Label Schmidttakahashi erklären rundheraus: „Unsere Freunde raten, wir sollen gar nichts dazu sagen, wenn wir Akquise betreiben“, die Mode spreche für sich. „Upcycling kommuniziert immer auch gleich ein Problem“, sagt Mariko Takahashi und zupft den Gürtel zurecht, den sie sich um den langen rostroten Strickpulli geschnürt hat. „Wir wollen doch einfach nur schöne Sachen machen.“ Partnerin Eugenie Schmidt fügt hinzu: „Ich esse einen Apfel ja auch, weil er schmeckt, nicht weil er bio ist.“
Die beiden sitzen in ihrem Atelier und bereiten ihre Kollektion für die Pariser Modewoche vor. Sie waren im Frühling nach Mitte gezogen, ihre ersten eigenen Räume, haben mehr Platz, beschäftigen Praktikanten. Schon ihre Sommerkollektion aus gebrauchten Jeans zeigten sie bei der Fashion Week in Paris. Die Zeitschrift Brigitte kürte sie zu „Frauen des Jahres 2013“ und bestellte eine Neuinterpretation des Kleinen Schwarzen. Es läuft.
Schmidttakahashi setzen nicht nur auf Spenden, sie kaufen auch ballenweise Ökostoff. Sie sind wohl die Undogmatischsten des Upcycling-Segments. Dabei ist ihr Gründungskonzept liebevoll durchdacht: Jedes Secondhand-Stück, das bei ihnen landet, bekommt eine Nummer und einen Stammbaum, idealerweise liefert der Spender auch gleich eine Geschichte mit, all das wird dokumentiert. Das Kleid etwa, das sie als neues Kleines Schwarzes konzipiert haben, ist angelehnt an ihr Plisseekleid aus einer vergangenen Sommerkollektion. Das Original hat an den Seiten Elemente eines Faltenrocks, in der Mitte Teile eines blauen Hemds. Auf der Homepage erfährt man, dass es von „VictoriaundAlbert“ abgegeben wurde. Über eine Weste schrieb die Spenderin: „Ich assoziiere das Kleidungsstück mit Trauer.“
Das Remixen ist zum Stilmittel geworden, das Collagenhafte tauchte in den zurückliegenden Saisons oft auf den Laufstegen auf: Jeanshemden genäht aus unterschiedlichen Blaustoffen vom französischen In-Label Céline; Trenchcoats mit Motorradjackenärmeln vom Designklassiker Burberry – alles Upcycling-Simulationen. Und dann sind da natürlich noch die bonbonbunten Klamotten der spanischen Vorreiter-Marke Desigual, die seit einigen Jahren so viel Erfolg hat. Deren Patchwork-Look sieht man an, dass der Gründer einst aus dem Zeug seines Secondhandladens auf Ibiza Neues schneiderte. Das war 1984.
Im Seitenraum bei Schmidttakahashi türmen sich Kleiderberge für die neue Kollektion. Alles gespendet, nach einem Aufruf der Designerinnen: bitte nur Kleider in Schwarz, Rot, Gold. Wenn sie die unmöglichste aller Farbkombinationen über den Laufsteg schicken, schaffen es die beiden, dass keiner an Deutschlandfahnen denkt. Und an Textilabfall sowieso nicht.