: Keine unendliche Mutter
ZAUBER Tornado, Terrorist, Erdbeben – die Spitznamen für Fabio werden mit Liebe gesagt. Zum Geburtstag schreibt die Mutter dem wilden Kind einen Brief
VON CHRISTINE REIMANN
Mein lieber Sohn,
heute ist dein 16. Geburtstag. Dazu möchte ich dir mit meinen besten Wünschen gratulieren. Ich versuche, dich zu umarmen, aber wie immer gefallen dir nur die Umarmungen, die von dir selbst kommen. Du umfasst mich von hinten, beißt in meine Haare, ziehst daran. Einen Moment lass ich dich, dann fühle ich deine Spucke auf meinem Hals, wende mich um und versuche, mich zu befreien.
Dein Geburtstag ist nicht wie der anderer Jugendlicher. Du sagst mir nicht, was du geschenkt haben willst. Du hast keine Freunde. Wenn wir heute Abend mit denen, die sich mit Liebe um dich kümmern, Pizza essen, bist du schon im Bett.
Ich hatte andere Vorstellungen von deinem Leben und einen klaren Plan: Du solltest zwei Hände haben und zwei Füße und sie benutzen können, zwei Augen, um die Welt zu sehen, und einen Kopf, um sie zu verstehen.
Nach deiner Geburt haben sie dich auf meinen Bauch gelegt und du hast meine Milch getrunken. Du warst so still, auch als ich dich neben mich ins Bett legte, wo du geschlafen hast, bis die Krankenschwestern dich holten. Uns blieb nur wenig Zeit. Ich konnte nur zusehen, als sie dich fortnahmen, in ein anderes Krankenhaus schafften. Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um dich dort zu finden, hinter einer Glasscheibe nackt unter einer Wärmelampe liegend, die Hände fixiert, damit du dir nicht wehtust, hier und dort einen Schlauch. „Signora, ich kann Ihnen jetzt noch nichts sagen, Sie können nach Hause fahren. Die Untersuchungen werden mehrere Tage dauern. Nein, Sie können nicht stillen, nein, den Müttern ist der Zutritt nicht erlaubt.“
Ich bin geblieben. Ich habe mir die Milch abgepumpt, damit du sie bekommst. Noch nie ging es mir so schlecht wie in dieser Woche. Doch ich weiß wohl, dass ich nicht für dich gelitten habe. Du warst noch ein Teil von mir. Mein Schmerz war für etwas, was mir passierte.
Illusion
Ich habe dich als gesundes Baby mit nach Hause genommen. Es gab keine Diagnose. Wer weiß, ob ich nicht schon damals tief im Herzen spürte, dass dem nicht so war. Ich wollte an das glauben, was sie mir sagten. Und als dann endlich das Ergebnis der genetischen Untersuchung kam, wurde ich nicht informiert. Das Resultat ging verloren.
Diejenige, die mich schließlich dazu brachte, die Augen aufzumachen, war eigentlich eine Fremde. Ihr verdanken wir es, dass wir dich zu anderen Spezialisten brachten, und dank derer hast du so früh mit deiner Therapie begonnen. Sie waren aufgrund von Beobachtungen sofort in der Lage zu sagen, was mit dir nicht stimmt: „Dieses Kind hat große Probleme mit den Gehirnfunktionen.“
Meist haben Eltern Zeit, sich von ihren Erwartungen zu lösen, während die Kinder heranwachsen. Vielleicht wollten sie einen Arzt als Sohn, stattdessen arbeitet er als Gärtner. Vielleicht wollten sie eine sportliche Tochter, stattdessen ist sie dick und nichts kann ihr beim Abnehmen helfen. Was auch immer mein Plan für dich war, als du sechs Monate warst, habe ich ihn zur Seite gelegt und versucht, mich an neuen Zielen zu orientieren: dass du ohne Hilfe sitzen lernst; dass du reagierst, wenn du deinen Namen hörst; dass du mir in die Augen schaust. Ich hätte dir auf deinem Weg nicht helfen können, wenn ich nicht gelernt hätte, dich als den zu akzeptieren, der du bist.
Der Schmerz jedoch war mein Schmerz, und er ist geblieben. Du bist zufrieden und glücklich. Du fragtest nie, wie es wäre, wenn du anders wärst. Du misst dich mit niemandem. Ich aber sehe, was dir nicht gelingt. Ich bekomme Angst, wenn ich daran denke, was aus dir wird, wenn wir nicht mehr für dich da sind.
Von klein an wolltest du nach oben. Du bist nicht gekrabbelt, aber du hast dich am Heizkörper hochgezogen, um auf den Beinen hin und her zu pendeln. Kaum fühltest du dich sicherer, fingst du an, Stühle umzuschmeißen. Was für ein herrlicher Krach. Du hast vor Zufriedenheit gelacht, unser Schimpfen war dir egal. Wer weiß, ob es für dich nicht Applaus war. Dann hast du den Tisch entdeckt. Als du gelernt hattest, darauf zu stehen, stampftest du mit den Füßen und drehtest dich wie ein Kreisel. Es ist uns nie gelungen, dich davon abzuhalten, auf Tische zu klettern – es hat dir zu viel Spaß gemacht. Jetzt ist es vielleicht etwas langweiliger geworden, und du begnügst dich damit, oben zu stehen und mit deinen Händen Abdrücke an der Decke zu machen.
Wenn du eine Treppe fandest, musstest du rauf. Oder runter. Du bist die Treppe auf allen Vieren, im Sitzen und rückwärts laufend hochgestiegen, dann abwärts und wieder hoch, immer wieder, auch auf dem Bauch rutschtest du runter wie ein Schlitten. Einmal setztest du dich auf dem oberen Absatz der Treppe auf das Schaukelpferd und schlittertest damit nach unten.
Aber es gab noch andere Höhen: Erinnerst du dich, als du auf den Fernseher klettertest und alles umfiel: du, der Fernseher, der Fernsehtisch? Ein Wunder, dass dir nichts passierte, der Fernseher war in zwei Teile zerbrochen, der Stecker steckte noch.
Jetzt ist der höchste Punkt für dich der Rand des Kamins. Von dort kommst du an die Gardine, kannst Bilder runterwerfen und an einer Lampe herumwerkeln, das Glas abmachen, die Metallarme verbiegen, die Glühbirnen rausschrauben.
Ich muss dir gestehen, in den schwärzesten Momenten stellte ich mir vor, ich ginge eines Morgens in dein Zimmer und du wärst tot. Ich werde mich immer daran erinnern, wie du einmal so fest schliefst, dass es schien, meine Fantasie sei Wirklichkeit geworden. Der Schreck war maßlos, wie auch das Schuldgefühl. Ich weiß wohl, dass ich dich nie hätte verlieren wollen. Ich wollte nur mal zu Atem kommen, einen Alltag haben ohne Stress.
Wirklichkeit
Schuldgefühle haben mich oft begleitet. Mach’ ich genug für dich? Mach’ ich das Richtige? Mit Sicherheit habe ich auch falsche Entscheidungen für dich getroffen. Als du das viele Valium bekamst, hast du ganze Jahre geschlafen. Erst später in einem anderen Krankenhaus wurde mir gesagt, das diese Therapie falsch war.
Du dagegen bist ohne Schuld. Jemand „nah bei Gott“, wie in Irland gesagt wird. Du lebst in einer anderen Dimension. Niemand gäbe dir jemals Schuld, auch wenn wir manchmal mit dir schimpfen, wenn du die Wand ableckst oder an Haaren ziehst oder Geschirr auf den Boden schmeißt. Du kennst das Böse nicht.
Du warst noch klein, als dein Bruder seinen fünften Geburtstag feierte. Er guckte mit Freunden die neue Kassette der „Power Rangers“, während du mit einer Holzlok in der Hand umherranntest. Du hautest deinen Bruder auf den Kopf, er drehte sich wütend um mit der Absicht zurückzuschlagen, sah dich und erstarrte in der Bewegung. Für den größeren Bruder war es unmöglich, sich gegen dich zu wehren.
Es gab Momente, da wünschte ich mir, selbst die kranke Person zu sein. Keine Verantwortung mehr dafür, was dir geschieht, was du anstellst. So kam es, dass ich im Krankenhaus, wohin ich wegen einer Knieoperation musste, mit Sicherheit die fröhlichste Patientin war. Aber das war nur eine Illusion.
In all diesen Jahren habe ich versucht, dich vor dieser Welt zu schützen, einer Welt, in der nur die zählen, die nützlich sind, und in der die Mächtigen definieren, was nützlich ist. Auf dieser Werteskala existiert nicht das, was du geben kannst. Das, was ich von dir lernte und was mich um so viel reicher macht: Verstehen, was wirklich wichtig im Leben ist und Moment für Moment zu leben, ohne das, was wir haben, für selbstverständlich zu halten.
Aber ich musste auch die Welt vor dir schützen, du bist so schnell und stark geworden, hast die Hände überall, deine Schreie können unerträglich sein, deine Kraft kann ich nicht mehr kontrollieren. Wir haben dir viele Spitznamen gegeben: Tornado, Fabio der Schreckliche, Erdbeben, Terrorist. Sei uns nicht böse.
Schließlich musste ich auch lernen, mich selbst vor dir zu schützen, vor deinen Zärtlichkeiten, die oft so heftig sind, die wehtun. Vor deinen endlosen Erwartungen, die du an mich stellst, weil ich für dich die endlose Mutter bin. Ich bin nicht endlos. Um die Wahrheit zu sagen, nach diesen 16 Jahren bin ich ziemlich am Ende.
Jetzt kann es vorkommen, dass ich mich morgens im Bett noch mal umdrehe, auch wenn ich dich schon höre, und anstatt sofort zu dir zu laufen, einen Schluck vom Kaffee trinke, den dein Vater mir jeden Morgen in seiner Liebe bereitet.
Ich bin dabei, die zweite Nabelschnur zu durchtrennen, diese unsichtbare, die Mütter an Kinder wie dich bindet. Das bedeutet nicht, dass ich dich nicht mehr liebe. In meinem Herzen wird es immer einen besonderen Platz für dich geben, und das weißt du. Aber jetzt, nach 16 Jahren, fühle ich, dass du kein Teil mehr von mir bist.
Du machst deine Erfahrungen, auf deine Art.
Du wirst immer eine Hand brauchen, die dich führt und dir hilft, aber es wird nicht immer meine Hand sein.
■ Kontakt zur Autorin, die in Italien lebt, über: www.idic15.it