Weg von diesem idiotischen Leben

COSTA INSOLVENCIA Spanien in seinem vielleicht letzten Sommer vor dem großen Ruin. Katerstimmung in Madrid, aber auch mehr Zeit für die Liebe

Die Gewerkschaften arbeiten jetzt auf einen Generalstreik für den 29. September hin

VON REINER WANDLER

Ein Lehrerehepaar, das mit einer kleinen Erbschaft von 25.000 Euro gleich fünf Wohnungen anzahlt, Studienabgänger, die trotz schlecht bezahlter, befristeter Arbeitsverträge eine Eigentumswohnung erstehen und 100 Prozent des Kaufpreises als Kredit bewilligt bekommen, normale Arbeiterfamilien, die im Neubaugebiet in eine Drittwohnung investieren, nachdem sie kurz zuvor bereits an der Küste eine Ferienwohnung auf Pump gekauft haben … Das ist, oder besser gesagt, das war Spanien.

In den vergangenen Jahren hatten alle nur einen Traum: reich werden ohne Arbeit. Die ständig steigenden Wohnungspreise versprachen hohe Renditen für alle. Doch nun ist die Spekulationsblase geplatzt. Hunderttausende Spanier sitzen auf ihren Schulden. So mancher zahlt eine Wohnung ab, die nach Einsetzen des Preisverfalls weniger wert ist als die aufgenommene Hypothek. Wer überhaupt noch einen Käufer findet, verliert viel Geld.

Vorbei sind die Zeiten, als jedes zweite Gespräch am Tresen begann: „Stell dir vor, meine Wohnung ist jetzt doppelt so viel wert als beim Kauf.“ Die Monopolypartie, bei der alle mitspielen wollten, ist um. Die Baukräne haben als Wahrzeichen Spaniens ausgedient. Die Baubranche ist zusammengebrochen und reißt Dienstleistungen, Einzelhandel und Gaststättengewerbe mit sich. Geschäfte in bester Lage schließen. Die Terrassen vor den Kneipen bleiben leer. Da helfen selbst Happy Hour und billige „Krisenmenüs“ nicht. Das Gaststättengewerbe und die für Spanien so wichtige Tourismusbranche verzeichnen einen Umsatzrückgang von 20 bis 30 Prozent.

Jeder Fünfte in Spanien ist arbeitslos. Am meisten trifft es die Immigranten. In den Jahren des Booms strömten sie ins Land und besetzten Arbeitsplätze, die die Spanier zugunsten besser bezahlter Jobs aufgaben. Über Nacht arbeiten in den Kneipen und im Einzelhandel fast nur noch Einwanderer. Jetzt müssen sie gehen. Viele Unternehmer stellen wieder Spanier ein.

Die zweite Problemgruppe sind junge Menschen ohne Abschluss. So mancher tauschte die harte Schulbank gegen den lukrativen Job auf dem Bau. Jetzt ist kaum noch Bedarf an ungelernten Arbeitskräften. Im Rahmen des Sparkurses Spaniens werden auch die Bildungsausgaben zusammengekürzt. Hunderttausende junge Erwachsenen befinden sich in einer Sackgasse. Die spanischen Familien rücken einmal mehr zusammen und füttern ihre Problemfälle durch.

Felipe González, der in seiner Amtszeit 1982 bis 1996 Spanien in die EU führte und trotz der Korruptionsskandale in seinem Umfeld bis heute vielen als der intelligenteste Regierungschef der jungen spanischen Demokratie gilt, analysiert: „Als 2007 die Krise ausbrach, war Spanien einer der besten Schüler des Stabilitätspaktes. Wir hatten ein Haushaltsplus von 2,5 Prozent des BIP. Die Staatsverschuldung lag bei gerade einmal 37 Prozent. Spanien verzeichnete ein Wachstum von 3,7 Prozent. In zehn Jahren haben wir 4,5 Millionen Immigranten in den Arbeitsmarkt integriert.“

Jetzt kommt die Rechnung

Doch diese Entwicklung hatte auch ihre Schattenseiten wie die ständig wachsende Verschuldung von Familienhaushalten und Unternehmen. In Felipe González’ Worten: „Die Banken vergaben riesige Mengen billiger Kredite. Wir importierten mehr, als wir exportierten, da wir Wettbewerbsfähigkeit verloren hatten. Was wir konsumierten, war wesentlich mehr als das, was wir selbst im Inland generierten, und schlimmer noch: Wir konsumierten, indem wir Ersparnisse von außen ausgaben. Wir schulden das, was wir gewachsen sind, was wir freudig konsumiert haben, unsere Exzesse. Und jetzt müssen wir dafür zahlen.“ Ein Blick auf die Zahlen bestätigt dies. Zwar verzeichnet Spanien mit derzeit 55 Prozent des BIP eine wesentliche geringere Staatsverschuldung als die meisten Euroländer – Deutschland inbegriffen –, doch die Privat- und Unternehmensverschuldung ist so hoch wie nirgends.

Nach dem Jahrzehnt des Baubooms mit ständig steigenden Wohnungspreisen stehen die Haushalte zu 90 Prozent in der Kreide. Rechnet man die 145 Prozent der Unternehmensschulden und die 110 Prozent der Banken sowie die Schulden von Regionen und Gemeinden hinzu, steht Spanien mit über 350 Prozent des BIP in den roten Zahlen.

Die spanischen Familien rücken einmal mehr zusammen und füttern ihre Problemfälle durch

In einem ersten Moment der Krise versuchte die jetzige Regierung des Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero die Bauwirtschaft mit Stimuluspaketen künstlich zu beatmen. Dies, die höheren Sozialausgaben und sinkende Steuereinnahmen ließen das Haushaltsdefizit auf 11,2 Prozent des BIP steigen. Jetzt kommt die Rechnung in Form eines strikten Sparpakets, mit dem das Defizit bis 2013 wieder auf 3 Prozent gedrückt werden soll. Bildungsausgaben, Forschungsgelder und öffentliche Investitionen werden gekürzt. Renten werden eingefroren, Beamtengehälter gesenkt und Babyprämien gestrichen. „Wir standen unter dem Einfluss der Droge des Konsums, und jetzt, wo wir nicht mehr konsumieren können, sind wir auf Entzug“, sagt Manuel Castells. Der angesehene Soziologieprofessor unterrichtet an einer Privatuniversität in Barcelona und der kalifornischen Universität von Berkeley. Doch für Castells ist die Krise auch eine „große Chance“, um einen verantwortungsvolleren Umgang mit den Ressourcen zu erreichen. Weg von „einem idiotischen Leben, in dem alle wie verrückt rennen, ohne innezuhalten, um Dinge zu konsumieren, die kaum von Interesse sind, um mit der Angst zu leben, ob Wohnungskredit und Auto abbezahlt werden können, um dann weiter im Stau zu stehen, alles zu kontaminieren, ohne sich Zeit zu nehmen, zu leben, ja nicht einmal zu lieben oder geliebt zu werden“.

Kaum ein aktuell politisch Verantwortlicher findet so klare Worte wie González oder Castells. Stattdessen versprechen viele die rasche Rückkehr zu altem Wohlstand und zu Gewinnen. Selbstkritik war und ist nicht die Stärke der spanischen Kultur. Stattdessen „Taschenspielertricks“, wie es Rafael Chirbes nennt. Der Schriftsteller aus der Mittelmeerregion Valencia geht mit dem Regierungschef Zapatero hart ins Gericht. Er habe die „wirtschaftlichen Wechselfälle“ lange vor den Bürgern verhüllt, um die „Fiktion, es gebe einen wesentlichen Unterschied zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten“ aufrechtzuerhalten. Der Text Chirbes’ erschien bezeichnenderweise nicht in Spanien sondern im Ausland, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Chirbes weiter: „Die Liste der Konflikte, die man in Spanien ausgraben […] kann, ist groß: praktizierende Katholiken gegen Laizisten, Abtreibungsverteidiger gegen Abtreibungsgegner, Nationalisten gegen Regionalisten, Anhänger von Verhandlungen mit ETA gegen Sympathisanten des harten Durchgreifens, […] Machos gegen Feministinnen und Homosexuelle und sogar, ja vor allem – und das 70 Jahre später – Erben der Opfer des Bürgerkrieges gegen Erben des Franco-Regimes.“ Chirbes hat mit seinem auch ins Deutsche übersetzten Roman „Krematorium“ die literarisch wohl treffendste Beschreibung des Immobilienbooms und seiner sozialen Auswirkungen geschaffen.

„Crispación“ nennen die Spanier jene ideologischen Spannungen, die von Regierung, aber auch Opposition seit Jahren geschürt werden, vor allem um das Wahlvolk vom Wechsel ins gegnerische Lager abzuhalten. Doch es funktioniert nicht mehr. 86 Prozent der Wähler haben – so eine aktuelle Umfrage der Tageszeitung El País – wenig oder überhaupt kein Vertrauen mehr in die Regierung Zapatero, genauso wenig wie zur Opposition. 73 Prozent glauben, dass die Konservativen, die der sozialdemokratischen Regierung aus wahltaktischem Kalkül jegliche Zusammenarbeit bei der Krisenbekämpfung verweigern, nicht besser regieren würden. Drei Viertel der Spanier wünschen sich ein Ende der politischen Zerstrittenheit und sehen in einer großen Koalition die beste Lösung. 77 Prozent wünschen sich neue Gesichter – bei beiden Parteien. Spaniens wirtschaftliche Krise hat sich längst zu einer politischen ausgewachsen.

Aber wer glaubt, dass diese Situation der ideale Nährboden für Proteste sei, sieht sich getäuscht. Beim Streik im öffentlichen Dienst im Mai war die Mobilisierung schleppend. Die Gewerkschaften arbeiten jetzt auf einen Generalstreik für den 29. September hin. Das wird nicht leicht. Nach zehn Jahren Immobilienboom ist nichts, wie es war. Viele Spanier fühlen sich als gestrauchelte Besitzer und weniger als drangsalierte Arbeiter. „Die Utopie vom Glück durch Konsum“, wie Castells das nennt, hat die spanische Gesellschaft grundlegend verändert.

Der Autor ist Korrespondent der taz in Madrid