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Archiv-Artikel

Ein Leben, das am Faden hängt

FREIHEIT „Ich will dich ficken“, hat er zu einer Frau gesagt und ihr an die Brust gefasst. Neunzehn Jahre lang wird Alfred Stief in die Psychiatrie eingesperrt. Von der Welt vergessen, häkelt er Menschen, Tiere, Teppiche. 700 Werke. Dann kommt er frei

VON WALTRAUD SCHWAB

Alfred Stief besitzt nichts. Keine eigenen Wände. Nur seine Haut. Wer in sein Haus treten will, muss den Eingang durch seine Augen nehmen.

Seit einigen Monaten wohnt Stief in einem Altersheim nicht weit von Osnabrück. In der Ferne fahren Züge vorbei. Bis vor kurzem hat er sein Zimmer mit einem Mann geteilt, der Findling hieß. Findling soll ein Erfinder gewesen sein. Ein Finder. Jetzt ist er verschwunden. Verlegt auf eine andere Etage des Heims. Können Menschen so einfach verschwinden? Alfred Stief nickt.

Den leeren Platz im Zimmer, den der andere hinterlässt, nimmt er nicht in Beschlag. In der einen Ecke ist nichts. In der anderen verdichtet sich, was seins ist. Das Bett mit der blauen Decke darüber – es gehört ihm nicht, aber er darf es benutzen. Seins ist nur ein Koffer unter dem Nachttisch. Seins ist auch eine Schnur, die er die Wand entlang gespannt hat. Versteckt am unteren Rand einer Bordüre hat er sie angebracht. Wie von Zauberhand scheinen die Dinge daran zu hängen: Wollfäden, Kopfhörer, ein Hampelmann mit langgezogenem Körper. Zwei große Figuren, die die Zunge herausstrecken, gehören Stief auch. Sie stehen auf der Heizung. Er hat sie selbst gehäkelt. Wenn er sie zeigt, leuchten seine Augen.

Alfred Stief ist 58 Jahre alt. Groß ist er. Stämmig. Die schuppige Haut, die grauen Bartstoppeln lassen ihn durchscheinend wirken. Ausgefranst. Sein Gesicht, seine Hände fast blau. Mit Blick nach unten geht er die niedrigen Flure des Heims entlang, als wollte er sich ducken. Aber auch mit gesenktem Kopf beobachtet er aus den Winkeln seiner schrägstehenden Augen sein Gegenüber genau.

In dem Seniorenheim lebt Stief, nachdem er neunzehn Jahre im Maßregelvollzug war. Dort werden psychisch kranke Straftäter eingesperrt, die wegen Schuldminderung nicht verurteilt werden. Unklar ist, ob Stief da vergessen wurde.

Auch die Etage im Seniorenheim, wo Alfred Stief nun wohnt, ist verschlossen. Nur dass keine Gitter vor den Fenstern sind und kein Zaun um das Heim steht. Auf die Frage, ob er ausgehen könne, nickt Stief und bittet eine Pflegerin wortlos, die Tür zu öffnen. Das ist neu, dass jemand aufschließt, wenn er es will. Und kann er sich vorstellen, irgendwann alleine zu leben? Wieder nickt Stief, denn reden mag er nicht mehr. Nach einer Kehlkopfoperation vor fünf Jahren lernte er zwar noch die Halsstimme, aber er gab sie auf. Wer jetzt mit Stief spricht, hört nur sich.

Herr Stief, haben Sie keine Lust mehr zu reden?

Er nickt.

Geht es Ihnen besser, seit Sie nicht mehr reden?

Er nickt.

Warum?

„Dan Brauchd man sich nicht Ergren“, schreibt er auf einen Zettel.

Haben Sie viel Ärger gekriegt für das, was Sie sagten?

Er nickt.

Darf ich von den Jahren im Gefängnis berichten?

Er nickt.

Auch die Geschichte von der Frau und dem Ficken?

Er nickt.

Haben Sie die Frau noch einmal gesehen?

Er bewegt seinen Zeigefinger von rechts nach links zur Verneinung.

Können Sie mir den Namen der Frau aufschreiben?

Er bewegt seinen Zeigefinger von rechts nach links.

Sind Sie bestraft worden für etwas, was Sie gesagt haben?

Er nickt.

Hat es wehgetan?

Er wiegt seinen Kopf hin und her.

Kaum hat die Pflegerin die Tür aufgeschlossen, geht Stief runter in den Keller des Gebäudes. Bewohner des Heims, darunter auch jüngere psychisch Kranke, stehen in den kahlen Gängen. Einige Türen sind offen – dahinter Werkstätten für Beschäftigungstherapie. Stief hält sich nicht auf. Geradewegs führt er zu einer Hintertreppe, unter der sein Fahrrad abgestellt ist, und bleibt davor stehen. Aufrecht. Ehrfürchtig. Mit offenen Armen, aber ohne es anzufassen. Endlich hat er wieder eins. Sein früheres Fahrrad, aus der Zeit, als er noch auf dem Bau arbeitete und nicht eingesperrt war, soll jeder in Recklinghausen gekannt haben. Stief hatte es umhäkelt.

In der Betreffzeile von Stiefs Strafakte steht: „Versuchte Vergewaltigung“. Er hatte „ich will dich ficken“ zu einer Frau gesagt und ihr an die Brust gefasst. Als die Frau ihn abwies und die Tür hinter sich schloss, versuchte er zuerst über die Nachbarwohnung und dann durch den Keller zu ihr zu gelangen. Dazu musste er Steine vor dem Kellerfenster wegräumen. In der Zwischenzeit holte die Frau Hilfe. Am 29. Mai 1989 in Recklinghausen war das. 21 Uhr. Stiefs Alkoholpegel zur Tatzeit: 2,14 Promille. Ein Sexualdelikt wird ihm vorgeworfen – ob es tatsächlich eins ist, wird nie juristisch geklärt.

Einer von Stiefs Brüdern schreibt in einem Brief ans Amtsgericht Rheine, dass Stief vor der Tat ein Techtelmechtel mit der Frau hatte. Er schreibt den Brief zwanzig Jahre nach der Tat. Dort steht auch, dass er seinen Bruder für tot gehalten hatte. Gestorben im Maßregelvollzug, da niemand die Angehörigen informierte, wenn Stief verlegt wurde. Als er nachfragte, habe man ihn abgewimmelt. Erst der Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen macht den Bruder wieder ausfindig, nachdem Stief schon mehr als achtzehn Jahre einsitzt. Einmal besucht er ihn im Maßregelvollzug.

Stief ist ein Sonderling. Nicht ganz klar im Kopf, sagen Leute, die mit ihm zu tun haben. „Geistig behindert“, nachdem er als Kind Opfer eines Verkehrsunfalls wurde, schreibt der Bruder in seinem Brief. Und die große Hilfsstrafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum, die 1989 nach der Tat über Stief befindet, führt an, dass eine Geistesschwäche, eine Beziehungsschwäche sowie eine Alkoholisierung zur Tatzeit vorlag. Sie sagt auch, dass nicht klar ist, ob er schuldfähig ist. Das Gericht ordnet eine Bewährung an und legt fest, dass Stief in der Zeit einen Entzug machen muss. Weil sich jedoch kein Therapieplatz in einer Entzugsklinik findet, wird er im August 1990 in das Westfälische Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt-Eickelborn gebracht. Haus 44. Maßregelvollzug. Ein weiß gestrichener Altbau mit hohem Zaun drumherum.

In der Prinzhorn-Sammlung, der renommierten Heidelberger Kunstsammlung von Werken psychisch Kranker, die zurückreicht bis ins 19. Jahrhundert, hängt eine Hand mit einem meterlangen Arm daran. Stief hat sie gehäkelt. Schon Anfang der Neunziger im Maßregelvollzug war das. In seiner Bindfadenzeit.

Die Hand ist eine frühe Arbeit von Stief. Fast zwanzig Jahre später, am Ende seiner Jahre in der Forensik, hat er ein beachtliches Werk mit 700 Objekten, Teppichen und Bildern geschaffen. Das Meiste gehäkelt. 70 Arbeiten davon sind diesen Sommer in der Kunsthalle in Recklinghausen ausgestellt.

„Es ist eine mutige Sache, wenn ein Mann eine Handarbeit macht“, sagt Thomas Röske, der Leiter der Prinzhorn-Sammlung, als er die Hand in der Sammlung zeigt. „Dass jemand die Technik benutzt, aber unpassendes Material dafür verwendet, spricht ebenfalls für Widerständigkeit.“ Das Material sei vielleicht ein Faden in die Erinnerung. Natürlich, die Hand, „die könnte um so was wie eine Handreichung bitten“, sagt er. Gleichzeitig fällt der lange Mittelfinger auf. „Die Hand ist eine Form von Kommunikation“, sagt Röske bedächtig.

Herr Stief, wie ist es zu schweigen?

Er streckt seinen Daumen nach oben.

Das bedeutet, Sie können auch nicht ins Gespräch kommen.

Er streckt seinen Daumen nach oben.

Haben Sie keine Fragen mehr an die Menschen?

Er nickt.

Ist es wegen der zwanzig Jahre im Gefängnis?

Er nickt.

Wer sich mit Ihnen unterhält, muss die Stille aushalten.

Er nickt.

Wer jetzt mit Ihnen spricht, muss Fragen so stellen, dass Nicken, mit den Schultern zucken, den Kopf schütteln als Antwort genügt.

Er bewegt die Hand hin und her.

Wie viele Neins gibt es?

Er bewegt die Hand hin und her.

Viele?

Er bewegt die Hand hin und her.

Mehrere?

Er nickt.

Ist das ein Experiment?

Er nickt.

Ist es ein künstlerisches Experiment?

Er nickt.

Sprechen Sie mit den Augen?

Er nickt.

Stiefs Geschichte wird aus vielen Perspektiven erzählt. Aus der von Rechtsanwälten und Gutachtern. Kunsttherapeutinnen, Kuratoren und Anstaltsleiterinnen. Nur nicht aus seiner eigenen.

Gutachter und Richter entscheiden über Stiefs Lebenslauf. Nachdem er 1991 schon über ein Jahr im Maßregelvollzug sitzt, heben Letztere seine Bewährung auf. Ohne dass Stief gegen Auflagen verstößt. „Aufgrund eines bei ihm vorliegenden Schwachsinns sowie seiner Alkoholabhängigkeit und seines sexuellen Vorverhaltens besteht die Gefahr, dass der Angeklagte auch künftig Straftaten auf sexuellem Gebiet begeht“, heißt die Begründung des Gerichts.

Alle paar Jahre gibt es neue Gutachten und richterliche Entscheidungen – mit immergleichem Ausgang. 1994, da ist er schon vier Jahre in der Vollzugsanstalt, wird er in die forensische Psychiatrie nach Marsberg verlegt, wo Langzeitalkoholiker behandelt werden. Dort findet er Barbara, eine Freundin. Sie stirbt 1995. Bald darauf ein Zwischenfall: Stief greift die Heimleiterin an. So kommt er erneut nach Eickelborn. Bis 2009 bleibt er in der Forensik – trotz Krebserkrankung und obwohl die Gutachter meinen, eine Unterbringung außerhalb des Maßregelvollzugs sei verantwortbar.

Nahlah Saimeh, die Leiterin der Maßregelvollzugsklinik in Eickelborn, schreibt 2007 in einem Gutachten, dass es bei Stief keine wirklichen Hinweise auf eine sexuelle Abweichung gebe. Aber – so steht da weiter – dass es zu einer solchen kommen könne, wenn Stief nicht unter Beobachtung und Begrenzung stehe. Auf die Frage, was genau sie damit sagen wollte, antwortet sie in ihrem Büro in Eickelborn: „Wo es ein Dilemma gibt, muss man es auch benennen.“ Dann betont sie, dass sie nicht autorisiert sei, über Stief zu sprechen. Worüber dann? Über die Entwicklungen in der Behandlung von psychisch kranken oder intelligenzgeminderten Straftätern. „Die Forensik von vor zwanzig Jahren ist wie ein VW Golf der ersten Generation. Heute ist sie ein Mercedes der E-Klasse.“

Auf hohen Absätzen führt Saimeh durch die mit massiven Sicherheitszäunen umrundete, hundertjährige Anstalt. Sie geht über die gepflasterten Wege, ohne zu straucheln. Streng, dunkelhaarig, schön. Die einzelnen Häuser, in denen die 406 Patienten leben, sind ebenfalls eingezäunt. Käfige im Käfig, Volieren im Zoo. In den Bäumen nisten Krähen. Saimeh zeigt das Kulturzentrum, eine Bibliothek und einen Musikraum. Eine Rockband und eine Theatergruppe gibt es. Gäste können die Aufführungen besuchen. Dieses Jahr: „Faust“. Patienten sind bei dem Rundgang nicht zu sehen.

Nicht nur die Forensik hat sich in den letzten dreißig Jahren verändert, sagt die Psychiaterin. „Auch unsere Einstellung zu sexueller Selbstbestimmung. Wir haben andere Rechts- und Normvorstellungen dazu entwickelt.“ Natürlich fließe das in die Beurteilungen von Patienten ein.

Und was ist mit Alfred Stief als Künstler? Gäbe es ihn, wenn er nicht eingesperrt gewesen wäre? „Zeit ist neben Talent sicher ein wichtiger Faktor“, sagt Nahlah Saimeh, „aber ohne tiefer in die Fallgeschichte von Herrn Stief einzusteigen: Jemand kann kreative Fähigkeiten haben und trotzdem gefährlich sein.“ In ihrem Gutachten von 2007 bescheinigte sie Alfred Stief aber immerhin eine „intellektuelle Grenzbegabung“. Das klingt anders als Schwachsinn.

Von Stiefs Grenzbegabung ist die Kunsttherapeutin Susanne Lüftner-Haude schon fünfzehn Jahre früher fasziniert. Sie lernt ihn 1992 im Maßregelvollzug kennen. „Ich war auch unsicher. Da soll einer kommen, der vergewaltigt hat“, sagt sie. „Aber der häkelte auch. Und deckte gern Tische.“ Psychisch Kranken gegenüber ist Lüftner-Haude offen. In ihrer Familie gab es selbst welche. Sie erzählt davon, wie es war als Kind, wenn sie den schrägen Verwandten zuhörte. Die kleine, stämmige Frau sitzt beim Gespräch mit Stief dabei. Sie hat seitenweise Akten kopiert und mischt sich ein, wenn ihr etwas nicht passt. Denn Stief, der Künstler, der ist auch ihr Werk.

Lüftner-Haude erzählt, dass sie Stief bestätigt. Sie fragt ihn nach der Bedeutung der gehäkelten Arbeiten und besorgt ihm Wolle, denn in der Beschäftigungstherapie hatte er bisher vor allem Bindfaden gefunden. Um mit dem starren Material arbeiten zu können, entwickelt er mit einer Nadel, die eigentlich zum Teppichknüpfen benutzt wird, seine eigene Technik und bleibt dabei. Er verhäkelt alles. Jeden Rest. Weil er mit mehreren Fäden gleichzeitig arbeitet, kann er noch das schrillste Garn – sei es neongrün, starkviolett, rosarot, grellgelb – in seine Kompositionen einbauen, ohne dass es die Farbharmonien zerstört. Er häkelt Hüte, die oben offen sind, damit das Denken frei bleibt, wie er sagt. Er häkelt Kannen, Becher, Schubkarren und schwere Bildteppiche. Er häkelt Köpfe, die die Zunge rausstrecken. Er häkelt archaisch anmutende Figuren und Tiere, deren Penisse sich aus- und einfahren lassen. Er häkelt Häuser, die wie Gefängnisse aussehen und vollgestopft sind mit Puppen.

Sind Sie glücklich, wenn Sie häkeln?

Er nickt.

Sprechen Sie mit den Menschen durch Ihre Arbeiten?

Er nickt.

Einige Ihrer Figuren strecken die Zunge raus.

Er lacht verschmitzt.

Möchten Sie auch manchmal die Zunge rausstrecken?

Er nickt.

Wem?

Er zieht die Schultern hoch.

Wenn Susanne Lüftner-Haude von etwas überzeugt ist, lässt sie nicht los. Sie hat Kunst studiert und in Soest eine Kunst-Praxis gegründet – ein offenes Atelier mit Kunstverein. Sie beginnt, Alfred Stiefs Häkelobjekte und Bilder, die im Maßregelvollzug entstehen, zu sammeln. Seine Figuren, seine dreidimensionalen Stadtlandschaften, seine Wollcollagen und Bildteppiche, in denen immer Kirchen, Hochhäuser, Kräne, eine Bank zum Sitzen, Menschen, Gleise und Züge auftauchen. Es müssen Versatzstücke aus seiner Erinnerung sein. Er häkelt seinen Namen in die Objekte und Teppiche. Mitunter seitenverkehrt. Es ist seine Signatur. Heute hat Lüftner-Haude die größte Sammlung von sogenannter Outsider-Kunst in Nordrhein-Westfalen.

Obwohl ihr 1993 der Kontakt zu Stief untersagt wird – zum Schutz, denn er habe sexuelle Fantasien ihr gegenüber entwickelt, sei ihr von der Klinikleitung gesagt worden – versorgt Lüftner-Haude ihn weiter mit Material, archiviert seine Werke. Als ihr verboten wird, Stiefs Arbeiten und die eines anderen Künstlers aus der Forensik, auszustellen, kündigt sie und macht die Ausstellung trotzdem. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ nennt sie sie.

Herr Stief, sieht man in den Teppichen Ihre Träume?

Er wiegt seinen Kopf hin und her

Was sind Ihre Träume?

Er zieht die Schultern hoch.

Wenn Sie keine Träume haben, bleibt der Teppich dann leer?

Er zieht die Schultern hoch.

Wie kommen Sie auf die Bilder in den Teppichen?

„Weil mir das so einfähld“, schreibt er auf einen Zettel.

Kommt Ihre Freundin, die Barbara, in den Teppichen vor?

Er schüttelt den Kopf und wendet seinen Blick ab.

Ende 2007 wird Stief in ein Pflege- und Betreuungsheim in Bad Pyrmont langzeitbeurlaubt. Acht Monate später wird er in die Maßregelvollzugsklinik Rheine verlegt, eine Einrichtung auf einem ehemaligen Militärgelände im Wald. Grund: eine „manische Entgleisung“. So steht es in der Stellungnahme der Vollzugsklinik Rheine. Er habe sich halb bekleidet im Kreis gedreht. Er habe es abgelehnt, dass Sonnenschutzcreme aufgetragen wird. Er habe während der Mahlzeiten im Kreise der Patienten Darmluft entweichen lassen, einer Ergotherapeutin wiederholt an das Gesäß gefasst, sich vor seinen Mitpatienten entblößt. Zudem habe er versucht, den Sicherheitszaun um die Anstalt hochzuklettern, schreibt die Klinik.

In Rheine wird Stief mit Psychopharmaka und Sedativa behandelt. Jede Lebenslust, jede Kreativität hätten die aus Stief rausgezogen, meint Lüftner-Haude. Sie wirft Mützen auf den Tisch, die er in der Zeit machte, als er die Beruhigungsmittel bekam. Die sehen wie Massenware aus. Da sei kein künstlerischer Funke mehr, sagt sie.

Herr Stief, sind Sie Künstler?

Er zieht die Schultern nach oben.

Sind Sie Künstler, weil Frau Lüftner-Haude sagt, Sie seien einer?

Er zieht die Schultern nach oben.

Als Stief nur noch vor sich hinstarrt, stellt Lüftner-Haude und der von ihr gegründete Verein „Kunst-Praxis“ Strafanzeige gegen die Verantwortlichen der Klinik wegen Misshandlung Schutzbefohlener und Freiheitsberaubung. Und sie findet für Stief den Bochumer Rechtsanwalt Lutz Eisel, als im November 2008 erneut die Fortdauer seiner Unterbringung von der 18. Strafvollstre-ckungskammer des Landgerichts Münster angeordnet wird. „Unser Batman“, wird Eisel von Leuten in Bochum genannt. „Unser Mann fürs Hoffnungslose“. Eisel legt Beschwerde gegen die Anordnung des Gerichts ein. Jede weitere Fortdauer verletze den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, argumentiert er und bekommt vom Oberlandesgericht Hamm Recht. Seit dem 1. Juni 2009 ist Alfred Stief aus dem Maßregelvollzug entlassen. Nun steht er unter Führungsaufsicht mit Betreuung und Bewährungshelfer. Der Rechtsanwalt sitzt, mit der Lesebrille auf der Nase, in seiner Kanzlei am Bochumer Hauptbahnhof. Natürlich müsse man fragen, ob einer, der unter Alkoholeinfluss eine Tat begeht, in die Forensik gehört, erklärt er. Aber im Fall Stief gibt es zwei Fehler. „Für die Unterbringung muss die Schuldminderung positiv festgestellt werden. Das wurde nie gemacht.“ Und der zweite Fehler? Der Anwalt wird aufgeregt. „Was ist das für ein Delikt?“, fragt er und antwortet selbst: „Kein Mann hat das Recht, einer Frau gegen ihren Willen an die Brust zu fassen.“ Aber aus Eisels juristischer Erfahrung liegt im Fall Stief eine tätliche Beleidigung und kein Sexualdelikt vor. Höchststrafe zwei Jahre.

Wie konnte es dann zu neunzehn Jahren Maßregelvollzug kommen? Eisel erklärt sich das so: Auf Stiefs Akte stand von Anfang an: „Versuchte Vergewaltigung“. Das wird in der internen Kommunikation dann so weitergegeben, meint er, bis es als Tatsache daherkommt. Weil die Staatsanwaltschaft 1989 aber gar keine Strafe anstrebte, sondern der Frage nachging, ob ein Sicherungsverfahren angesagt sei, sei nie geprüft worden, ob es sich im Fall Stief überhaupt um versuchte Vergewaltigung handelte. „Niemals hätte dieses schlampige Urteil bei einer Revision Bestand gehabt“, sagt er. „Aber es hat niemand Revision eingelegt.“ Stief kommt aus bescheidenem Milieu.

Herr Stief, wie viele Leute lebten auf dem Bauernhof, wo Sie aufwuchsen?

Er zeigt zehn Finger.

Erinnern Sie sich daran, was die Menschen gemacht haben?

Er schüttelt den Kopf.

Können Sie sich nicht erinnern, weil es wehtut?

Er nickt.

Was ist mit Ihren Brüdern?

Er hebt die Schultern.

Leben Sie noch?

„Der Dieter is scho tott“, schreibt er auf den Zettel.

Wann haben Sie angefangen zu häkeln?

Er hebt die Schultern.

Waren Sie irgendwann der Mann, der häkelt?

Er nickt.

Wissen Sie, warum Sie im Gefängnis waren?

Er wiegt seinen Kopf hin und her.

Haben Sie etwas Schlimmes gemacht?

Er schüttelt den Kopf.

Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Jetzt klagt der Landschaftsverband Westfalen Lippe, der Träger der Einrichtungen, in denen Stief saß, gegen Susanne Lüftner-Haude auf Unterlassung. Unterlassen soll sie unter anderem die Aussagen, dass Stief zu Unrecht in die Forensik geraten sei und dass er im Maßregelvollzug Rheine gegen seinen Willen sediert wurde. In erster Instanz wurde die Unterlassungsklage in allen Punkten abgewiesen. Der Landschaftsverband klagt weiter. Warum? „Wir können unwahre Behauptungen nicht stehen lassen“, sagt der Pressesprecher.

Derweil sitzt Stief im Fernsehraum des Altenheims in der Nähe von Osnabrück. Mit ihm sind noch drei Männer im Zimmer, die bewegungslos auf den Sofas hocken und auf den Bildschirm starren. Ein Tierfilm. Stief aber häkelt an einem großen, schweren Teppich. Drei Quadratmeter ungefähr hat er schon. Neben ihm ein Berg Wolle. Man lässt ihn daran arbeiten, wann immer er will. Auch nachts. In den Teppich hat er Eisenbahngleise und Menschen, die in einem Fluss schwimmen, eingearbeitet. Der Fluss ist neu. An einer Ecke des Teppichs hat er Häuser auf den Teppich gehäkelt, eine Kirche. Eine Bank. Dreidimensional. Und natürlich seinen Namen. „Alfred Stief“. Die neue Adresse. „Haus Elisabeth“. In Großbuchstaben. Um alles zu zeigen, tritt er den Teppich mit seinen schweren Füßen platt. Der Wolleberg, der Teppich, Stief, der etwas tut und nicht nur vor sich hinstarrt – all das macht den kahlen Raum warm.

Wie wissen Sie, wann eine Arbeit fertig ist?

Er schaut auf.

Wissen Sie es einfach?

Er nickt.

Waltraud Schwab ist sonntaz-Reporterin und ein Fan der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung