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Archiv-Artikel

Normalzeit HELMUT HÖGE über pseudopatriotische Diebe

Verbrechen und Leidenschaft in der Hauptstadt

Es kommt immer anders, als man denkt: Statt von 40.000 Nutten aus aller Welt und ebenso vielen protestantischen Hooligans wird die Stadt von feinfingrigen Dieben jedweglicher Couleur heimgesucht. Inzwischen ist es schon so schlimm, dass ausgerechnet an unserem alten verpissten Kreuzberger Mietshaus, das noch vor kurzem wegen der vielen angeblich geklauten Fahrräder im Hof polizeilich überwacht wurde, ein handgeschriebenes Schild darum bittet, die Tür stets geschlossen zu halten – weil wiederholt Fahrräder vom Hof geklaut wurden. In der Kneipe nebenan hat man zwei Leuten das Handy geraubt und vier Leuten Sachen aus ihrem Rucksack.

Dabei sollen sich die meisten Diebe gar nicht in Kreuzberg, sondern auf der Fanmeile, am Zoo und in Mitte aufhalten. Überall dort also, wo die fußballbegeisterten Massen infolge übermäßigen Alkoholkonsums die Kontrolle über ihr Hab und Tun verlieren. Der Taschendieb bewegt sich zwar idealerweise gleich dem Revolutionär in den Massen wie ein Fisch im Wasser. Von diesem unterscheidet er sich jedoch dadurch, dass die ihm liebsten Massen gar nicht dumm und besoffen genug sein können. Insofern macht es durchaus Sinn, dass die Fußballfans nicht vom Verfassungsschutz, sondern von der auf 60 Beamte aufgestockten Ermittlungsgruppe „EG Taschen“, die eng mit der Bundespolizei zusammenarbeitet, observiert werden.

Allein in der ersten WM-Woche liefen 420 Fälle von Taschendiebstahl bei der Polizei ein. Laut EG-Leiter Thomas Neuendorf sind es in „normalen Wochen“ etwa die Hälfte. Hinzu kämen nun noch – „ähnlich wie bei der Loveparade“ – die vielen ausländischen Gäste, die erst später, „wenn sie wieder zu Hause sind“, Anzeige erstatten würden.

Dennoch seien selbst die derzeitigen Rekordzahlen „moderat“, wenn man bedenke, „wie viele Menschen derzeit in der Stadt sind“. Neuendorf führt das darauf zurück, dass seine EG im Vorfeld schon „etliche Banden“ hochgenommen habe. Das hätte sich „in der Branche herumgesprochen, so dass manche Diebe nun Berlin meiden“.

Die ersten 36 festgenommenen Täter stammten vor allem aus Nordafrika und Osteuropa. In München war es ähnlich: dort wurden unter anderem fünf Albaner, vier Rumänen und drei Polen als „Trickdiebe“ entlarvt. Einige benutzen einen „speziellen WM-Trick: Ein als Fan getarnter Täter schwenkt eine Fahne, in deren Schutz sein Komplize das Opfer ausplündert.“

In Kreuzberg haben wir das schon immer gewusst: Wer eine Deutschlandfahne schwenkt, ist gemeingefährlich und man geht ihm besser aus dem Weg. Nun gibt es aber immer mehr nette Mädels, die sich mit einer Deutschlandfahne behängen, sich schwarz-rot-goldene Klamotten anziehen und das Gesicht in diesen Farben schminken. Man weiß nicht: Sind es moderne, im Medienzeitalter angekommene Teenager/Praktikantinnen, die sich nicht mehr an fette, aber einflussreiche Männer ranmachen, sondern an junge athletische Sport-, Rap- und Fernseh-Stars? Oder vielleicht bloß besonders gewiefte Trickdiebinnen?

So mancher Loser, hinter dem bloß noch die GEZ her ist, hofft, dass sie Letzteres sind. Tom Wolfe hat in seinem neuen College-Roman „Ich bin Charlotte Simmons“ Erhellendes über diesen neuen „Groupie“-Trend beigesteuert, den man als „Starfuck-System“ bezeichnen kann. In den USA ist er derart bedrohlich geworden, dass die Spielerfrauen fast aller Sportarten bereits landesweit Selbsthilfegruppen gegründet haben gegen diese bauchnabelfreien „bitches“.

Es fällt jedoch schwer zu glauben, dass die mit der deutschen Scheißfahne geschmückten Mädchen es in dieser Stadt auf internationale Profifußballer beziehungsweise -trainer abgesehen haben. Und wenn doch, dann würden sie die wohl kaum rund um den Kotti und in seinen albernen Künstlerkneipen suchen. Da sie, ebenso wie die Taschendiebe, „dämmerungsaktiv“ sind, sich im Gegensatz zu diesen aber mit zunehmender Dunkelheit nicht nüchtern umtun, sondern eher zügig betrinken, ist der taz-Musik-Drogen-Fußball-Forscher Detlef Kuhlbrodt der festen Überzeugung, dass sie „Muschifußball“ kucken, das heißt für keine Mannschaft sind, und sich ansonsten bloß in Kleingruppen amüsieren wollen.