: „Die Täter schleimen sich ein“
SERIE MISSBRAUCH, TEIL 3 Die Beraterin Ursula Enders über die unveränderten Fallzahlen, falsche Konzepte und die Frage, ob Mütter eine Mitschuld am Missbrauch haben
■ 60, unterstützt seit mehr als 30 Jahren sexuell missbrauchte Kinder. Sie ist Leiterin von „Zartbitter Köln“, der Kontaktstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs.
INTERVIEW HEIDE OESTREICH
taz: Frau Enders, seit vier Jahren diskutiert Deutschland über sexuellen Missbrauch. Aber die Fallzahlen haben sich gar nicht verändert. Im Jahr 2012 wurden jeden Tag 35 Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs. Nützt die Debatte nichts?
Ursula Enders: Bei uns in der Beratung hat die Zahl der Ratsuchenden in den letzten Monaten massiv zugenommen. Gerade im Kinder- und Jugendbereich sind die Fachkräfte nun geschulter und holen sich früher Rat. Das ist wichtig, weil man auf Hinweise auf sexuellen Missbrauch besonnen und fachlich kompetent reagieren muss. Man kann sehr viel falsch machen.
Das heißt, die Schutzkonzepte greifen?
Leider richten sie manchmal sogar Schaden an. In vielen Schutzkonzepten sind fachliche Fehler. So werden vage Hinweise auf Missbrauch manchmal als handfester Verdacht gewertet, und dann wird sofort gehandelt – obwohl noch gar nicht klar ist, ob ein Fall vorliegt. Wenn bei einer Vermutung jemand das Mädchen oder den Jungen unfachlich befragt, dann blockt das Kind oft ab, etwa weil es sich schämt. Und dann heißt es: Da war nichts.
Was sollten PädagogInnen stattdessen tun?
Sie können zum Beispiel mit der Gruppe sehr vorsichtig ein Gespräch über sexuelle und andere Grenzverletzungen führen und Kindern vermitteln, wo sie Hilfe bekommen. Am wichtigsten ist die Botschaft: „Hilfe holen ist kein Petzen.“ Betroffene Mädchen und Jungen machen zuerst oft leise Andeutungen, um zu testen, ob ihr Gegenüber vertrauenswürdig ist. Da dürfen Sie weder weghören noch sofort losrennen und blinde Aktivitäten starten. Den Kontaktpersonen können Fachberatungsstellen Hilfe geben, sodass sie auf Hinweise von Kindern und Jugendlichen sachlich und nicht emotional reagieren. Wer mit Schrecken reagiert, bringt das Kind vielleicht sofort wieder zum Schweigen.
Es heißt, sexualisiertes Verhalten sei so ein Hinweis, der Erwachsene aufhorchen lassen muss. Stimmt das?
Das ist schwierig. Wenn ein Kind anderen immer wieder zwischen die Beine fasst, dann kann das ein Hinweis sein. Aber massive Selbstbefriedigung etwa kommt oft auch bei Trennungskindern vor. Am besten, man fragt eine Fachberatung. Vielleicht liegt auch eine ganz andere belastende Situation vor.
Und was können noch mögliche Hinweise sein?
Gut ist, wenn etwas Objektives gefunden wird. Etwa wenn die Partnerin auf dem Handy Kinderpornos findet. In vielen Fällen kommen die Hinweise vom Täter selbst. Die Frage ist also: Bei welchem Verhalten Erwachsener frage ich mal in einer Fachberatung nach, ob das ein Hinweis sein kann?
Also: bei welchem Verhalten?
Ich hatte neulich den Fall eines Fußballtrainers, der Kinder einlud, bei sich zu übernachten. Das kann ein Hinweis sein. Täter schleimen sich ein. In der Seelsorge sind es oft die „großartigen“ Pfarrer, die mit ihrem Charisma auf Fang gehen. Wenn Erwachsene Kindern unangemessen große Geschenke machen, werde ich misstrauisch. Und wenn Erwachsene Jugendliche zum Alkoholtrinken animieren, dann werde ich sehr misstrauisch. Wenn jemand so ein „Berufsjugendlicher“ ist und die Grenzen zwischen Generationen missachtet, dann schaue ich auch genauer hin. Kinder und Jugendliche brauchen solche Grenzen. Die schützen sie. Auch wenn Erwachsene sich selbst stark sexualisiert verhalten, etwa durch die Kleidung, dann lässt mich das aufhorchen.
Entsteht so nicht eine Kultur des Verdachts?
Nein, ich plädiere vielmehr für eine Kultur der Grenzachtung. Dabei ist zu beachten, dass nicht jeder, der sich grenzverletzend verhält, ein Sexualstraftäter ist. Aber ein grenzverletzendes Verhalten ist im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen immer ein fachliches oder persönliches Fehlverhalten. Das kann ich ansprechen. Viele Erwachsene sind lernfähig und achten nach einer sachlichen Ansprache die Grenzen von Mädchen und Jungen. Tun sie es nicht, so haben sie sich für die pädagogische Arbeit disqualifiziert.
In den 80er Jahren hat auch die Wissenschaft sexuelle Kontakte mit Kindern und Jugendlichen verharmlost. Begegnen Sie dieser Haltung heute noch?
Fachberatungsstellen, die auch Hilfen für Jungen und Männer anbieten, leiden heute noch unter den Auswirkungen der pädosexuellen Lobby, die bis zur Jahrtausendwende sexualisierte Gewalt gegen Jungen bagatellisiert hat. Die Landesfinanzierung von Zartbitter etwa ist seit 2000 eingefroren. Die pädosexuelle Lobby trat auch zutage, als es darum ging, ob Kinderpronografie im Netz geblockt oder gelöscht werden soll. Natürlich hätte man beides machen müssen.
Die GegnerInnen des Blockens befürchteten Zensur.
Ja, aber sie nahmen in Kauf, dass dieses Material zwei Jahre länger im Netz steht und dass weitere Opfer produziert werden. Da ist diese alte Bagatellisierung noch am Werk. Die Exjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat gerade diese Kampagne befördert.
Viele Opfer von sexueller Gewalt in der Familie klagen ihre Mütter an, die sie nicht geschützt hätten. Verhalten sich Mütter heute immer noch so?
Das ist ein Mythos. Die meisten Kinder werden außerhalb der Familie missbraucht. Da schweigen ganz unterschiedliche Leute. Warum sollen nun gerade die Mütter schuld sein?
Weil die Kinder sich ihnen anvertraut haben und sie die Gewalt nicht gestoppt haben.
Aber die Hinweise der Kinder sind oft sehr verschlüsselt. Die haben viele Mütter einfach nicht verstanden. Oder sie sind so geschockt, dass sie einen Filmriss haben. Auch sie sind traumatisiert.
■ Nachdem vor vier Jahren systematische Fälle von sexuellem Missbrauch an der Berliner Eliteschule Canisius-Kolleg öffentlich wurden, begann eine breite gesellschaftliche Debatte zu dem Thema. Die taz fragt in einer Serie: Was ist davon geblieben? Teil 1: Ein Interview mit Canisius-Rektor Tobias Zimmermann (22. 1.). Teil 2: Was wird aus dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung? (27. 1.). Es folgt u. a. eine Bestandsaufnahme der grünen Missbrauchs-Aufarbeitung.
Haben Sie den Eindruck, dass Präventionskampagnen helfen, die Kinder auffordern, Nein zu sagen?
Nein. Kinder einfach auffordern, Nein zu sagen, ist unverantwortlich, eine heillose Überforderung. Dann hat das Kind, das vielleicht starr vor Schreck war und keinen Ton herausbrachte, doppelte Schuldgefühle. Mädchen und Jungen haben Anspruch auf Schutz und Hilfe von Erwachsenen. Deren Aufgabe ist es, wahrzunehmen, dass etwas nicht stimmt. Diese Sag-Nein-Kampagnen beruhen auf Laienwissen und sind schädlich. Solche Trainings sind Geschäfte mit der Angst. Seriös ist hingegen die Versicherung, dass es kein Petzen ist, wenn man Hilfe holt.
Wie bewerten Sie die Rolle der Medien?
Die Medien haben viel aufgedeckt, das rechne ich ihnen hoch an. Aber sie wollen immer mit Opfern sprechen. Und die sind heute natürlich Erwachsene – aktuelle Opfer kann man nicht interviewen. So ist der Eindruck entstanden, dass Missbrauch ein Problem der Vergangenheit ist. Die Hilfe für aktuelle Opfer bleibt aus.
Was müsste geschehen?
Die normalen Familienberatungsstellen brauchen Unterstützung von Fachleuten, die ihre Arbeit mit den Kindern begleiten. Aber Exfamilienministerin Kristina Schröder und Frau Leutheusser-Schnarrenberger haben gegenüber der Problematik eine unendliche Ignoranz an den Tag gelegt. Wenn ein Kind einen Unfall hat, wird es doch auch nicht blutend auf der Straße liegen gelassen. Viele Betroffene von sexuellem Missbrauch bekommen aber heute noch keine Hilfe.
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