: Geheime Zugbegleiter
AUS DUISBURG ANNIKA JOERES
Ernst Gesierich hat viele Gegenspieler: herumtollende Kinder, umgefallene Bäume, brennende Böschungen. Sie sorgen dafür, dass viele der 3.600 täglich fahrenden Züge in NRW zu spät kommen. Oder umgeleitet werden. Oder sogar ganz ausfallen. Der bärtige Bahnbeamte macht „unkalkulierbare Zufälle“ für die Verspätungen der Schienenfahrzeuge verantwortlich. „Wir haben keinen Einfluss darauf“, sagt er und zieht die Schultern hoch.
Dabei strahlt die Duisburger Betriebszentrale, durch die der 57-Jährige stürmt, viel Macht aus. Gesierich leitet die Planungen der Zentrale. In ihr wachen 40 DisponentInnen rund um die Uhr über den Schienenverkehr in NRW: über das 4.500 Kilometer lange Schienennetz und die 690 Bahnhöfe. Wann die Züge ankommen, ist allerdings Glückssache. In keinem anderen Bundesland häufen sich die Verspätungen so sehr wie in Nordrhein-Westfalen.
Die Angestellten in Duisburg können dabei das Übel nur verwalten. Sie sitzen in einem abgedunkelten Raum, der an einen Flughafentower erinnert. Neben dem Surren der Computer ist kaum ein Geräusch zu hören, ab und zu klingelt ein Telefon. Im Halbdunkel sitzen dutzende LogistikerInnen jeweils vor sechs Bildschirmen. Reisezüge fahren als roter Strich über die Monitore, der Nahverkehr ist grün, ein Güterzug blau. Die Striche im Koordinatennetz sind unzählig. „Wir haben so viele Verbindungen hintereinander, so viele Züge...“ Ehrfurchtsvoll schaut Gesierich auf die blinkenden Muster auf den Monitoren. „Das ist schon Wahnsinn“, fügt er dann hinzu. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.
Die meist jungen Leute vor den Bildschirmen entscheiden täglich über das Los von tausenden PendlerInnen in NRW. Sie geben die Intercitys frei, falls der Nahverkehr streikt, sie bestimmen, welcher Zug Vorfahrt hat, ob eine Strecke wegen spielender Kinder gesperrt werden muss. Das dichte Bahnnetz in Nordrhein-Westfalen ist wie das Autobahnnetz besonders anfällig für Störungen: Nach einem „Personenunfall“, wie die Bahn Suizide umschreibt, sind 40 Züge aus dem Takt. Alle paar Tage rammt ein unachtsamer Lastwagenfahrer eine Brücke, die Gleise müssen daraufhin erst auf ihre Funktionstüchtigkeit abgeklopft werden. „An unserem Material liegt es jedenfalls nicht“, sagt Gesierich. Die Verbraucherzentrale hingegen kennt viele Fälle von Lokschäden oder defekten Oberleitungen. „An unserem Material liegt es aber nicht“, wiederholt Gesierich leise.
Vor wenigen Wochen musste er eines der größten Desaster der Bahn verteidigen. Einen Tag vor der Fußball-Weltmeisterschaft ging zwischen Köln und Dortmund nichts mehr. In der Regionalexpresslinie 1 hielt die Bahn Reisende mehr als eine Stunde zwischen Duisburg und Mülheim fest. Am Tag des Eröffnungsspiels brach der Verkehr zwischen dem Ruhrgebiet und Düsseldorf erneut zusammen. „Da waren Leute auf der Strecke ausgestiegen“, sagt Gesierich. Wieder Schulterzucken. „Wir sind verpflichtet, die Gleise großräumig abzusperren.“ Die Bundespolizei rückte raus, die Rettungsaktion dauerte zwei Stunden.
Die MitarbeiterInnen vor den Computern haben das Chaos nicht verhindern können, obwohl sie vollzählig waren; während der WM hatten sie alle Urlaubssperre. Wie so häufig war die Achse zwischen Köln und Dortmund besonders betroffen. Nach Jahren der verfehlten Planungen der rot-grünen Landes- und Bundesregierung fährt hier immer noch kein Metrorapid und kein Rhein-Ruhrexpress im Zehnminutentakt, sondern einmal stündlich ein hoffnungslos überfüllter Regionalexpress. Nach Untersuchungen der Verbraucherzentrale NRW verlieren PendlerInnen durchschnittlich eine volle Arbeitswoche pro Jahr durch Verspätungen.
Von aufgebrachten Fahrgästen ist in der klimatisierten Duisburger Zentrale nichts zu spüren. Den Zorn der Reisenden müssen die SchaffnerInnen vor Ort aushalten. Ruhig sitzen die Angestellten an ihren Computern, mechanisch geben sie ihre Verspätungen und Umleitungen durch.
Die KundInnen haben kein Verständnis für Gesierichs Achselzucken. Mehr als 2.500 Menschen wandten sich im vergangenen Jahr an die Schlichtungsstelle Nahverkehr in NRW. Diese ist im Jahre 2001 vom Verkehrsministerium des Landes NRW bei der Verbraucherzentrale eingerichtet worden, um im Streitfall zwischen Fahrgästen und Verkehrsunternehmen zu vermitteln. Wichtigster Beschwerdepunkt: die Verspätung. Ein weiterer: die schlechte Information über alternative Verbindungen.
Henry Klinkradt kann das nicht nachvollziehen. „Bei einem Stau auf der Autobahn regen sich die Leute auch nicht auf.“ Dabei würden sie viel länger in ihren Autos festsitzen als auf dem Bahnsteig. Der 36-Jährige überwacht seit zehn Jahren die Strecke zwischen Duisburg und Hamm auf seinen sechs Bildschirmen. Einmal quer durchs Ruhrgebiet, einen der dichtesten Knotenpunkte in ganz Deutschland. Jetzt stört eine Baustelle in Dortmund acht Verbindungen, Klinkradt telefoniert, Züge werden umgeleitet.
Henry Klinkradt sitzt im Poloshirt zurückgelehnt in seinem Sessel. Wie ein Weitsichtiger beobachtet er die flirrenden Striche aus der Ferne. „Mich kann nichts aus der Ruhe bringen“, sagt er. Regen sei ihm gleichgültig, auch der Ansturm zu Urlaubszeiten könne ihn nicht stressen. Nur Sturm sei schlimm, vor allem während der Reisezeit, oder starker Frost. „Dann gibt es Stress.“ Die täglichen Verspätungen findet er nicht schlimm. „Nur wenn nichts mehr fährt, das ist hart.“ Diesmal nickt Gesierich heftig. Er steht dicht neben Klinkradt. Keiner seiner MitarbeiterInnen spricht unbeobachtet.
Einen Halbkreis weiter koordinieren sechs Leute den schnellen Fernverkehr. Früher hatten die ICEs immer Vorfahrt vor den Regionalexpress- oder Bummelzügen vor Ort. Letztere mussten häufig warten, bis ein verspäteter Express das Gleis wieder frei machte. Jetzt soll das anders sein. „Wir fahren diskriminierungsfrei, ganz diskriminierungsfrei“, sagt Gesierich schnell. Seitdem die Betriebszentrale auch private Bahnlinien wie etwa Abellio Rail betreut, hätten alle Züge dasselbe Durchfahrrecht. Im Alltag sieht das allerdings anders aus: Kaum ein ICE musste je die Gleise für Regionalexpresse frei machen, wohl aber umgekehrt. Laut Gesierich kann das aber nur einen „speziellen Einzelfallgrund“ haben.
Bei längeren Verzögerungen werden die schicken Schnellzüge auch für die günstiger Reisenden im Nahverkehr geöffnet. „95 Prozent der Anträge bescheiden wir positiv“, sagt Dietmar Wenk von der Transportleitung. Jeden Tag würden so zwischen zehn und fünfzehn ICEs frei gegeben. Nur wenn einzelne Waggons schon voll besetzt seien, ginge das natürlich nicht, zum Beispiel auf der Strecke Frankfurt nach Norddeutschland. Oder wenn die Gleise gerade wieder durch „unvorhersehbare Störenfriede“ behindert würden: etwa durch spielende Kinder, umgefallene Bäume oder brennende Böschungen.