: Was war mit den Schlipsen am Böhmischen Platz?
KIEZGESCHICHTE Unterwegs durch Neukölln – mit Reinhold Steinle als Führer, der dort in seinem Kiez sogar die Feuerlöscher kennt
Etwas schäbig grinsend und in rotem Umhang gekleidet blickt Heinz Buschkowsky aus dem Schaufenster eines klitzekleinen Puppentheaters am Böhmischen Platz. „König Buschi“, der sich in seiner Puppenform manchmal auch in eine Vorführung setzt. Der Theaterbesitzer erwartet dann, dass sich auch alle Zuschauer verneigen.
Reinhold Steinle erzählt es, während man vor dem Schaufenster steht, wo neben der Puppe des Neuköllner Bürgermeisters auch noch Spreewaldhonig zum Verkauf angepriesen wird. Und er erzählt, dass der Inhaber immer mal wieder Vier-Gänge-Menüs für wenige Tische kocht und dabei ein Zauberer die Esser erheitert. Solche Kiezgeschichten wie die vom Puppentheater am Böhmischen Platz erfährt der Teilnehmer bei den Neuköllner Stadtteilführungen von Reinhold Steinle. Jeden Samstag führt der Schauspieler und gebürtige Schwabe nachmittags durch den Kiez am Richardplatz, das Schiller- und Rollbergviertel oder den Körner- und Reuterkiez. Seit 2008 macht Steinle seine Führungen, im Winter treffen sich eher kleine Gruppen, sommers sind nicht selten 20 Leute dabei.
Am Richardplatz, der Wiege Neuköllns, geht es dann zurück in jene Zeiten, als das noch ein kleines entlegenes Dorf mit 100 Einwohnern war. Man erfährt, warum Neukölln schon immer einen miesen Ruf hatte, und dass die Böhmen, die Einwanderer jener Zeit, gar nichts dafür konnten, sondern dass die Soldaten der preußischen Armee den Ruf ruinierten. Den Böhmen und ihren Gehöften ist vielmehr zu verdanken, dass noch heute mitten in Berlin dörfische Fachwerkhäuser mit bunten Fensterläden und Scheune dahinter stehen.
Aber auch aktuelle Stadtgeschichte ist Teil der Führung. Da Neukölln vor einigen Jahren noch alles andere als „in“ war und alle Ladenlokale leer standen, mussten zwei Schneiderinnen, lässt Steinle wissen, in ihrem Geschäft 2006 keine Miete, sondern nur Nebenkosten zahlen. Das Quartiersmanagement. Und im vergangenen Jahr, erzählt Steinle, hängte ein Künstler 777 bunte Schlipse an den Böhmischen Platz, die die Galgenstricke der Immobilienhaie darstellen sollten. Erschwingliche Wohnungen gibt es im Richardkiez keine mehr. Seine Schlipse musste der Künstler wieder abhängen. Es gab Beschwerden.
Was die akrobatischen Korkmännchen auf den Straßenschildern für eine Bedeutung haben (Anreiz für Yogaübungen sollen sie sein) und warum beim Rixdorfer Strohballenrennen immer die Tschechen gewinnen – erfährt man alles unterwegs mit Steinle. Anstatt große Züge der Stadtgeschichte zu umreißen, konzentriert er sich bei seinen Gängen durch Neukölln auf das Kleine, auf ein Lädchen an der Ecke, ein Straßenschild oder gar einen Feuerlöscher. Er kennt jedes stuckverzierte Treppenhaus, und wenn jemand ein Orgelkonzert in seinem Wohnzimmer gibt, weiß das Reinhold Steinle, der Neuköllner Stadtteilführer, auch. ANNA BORDEL