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Archiv-Artikel

Atmosphärisches Hoch

SCHWIMM-EM Athleten aus Großbritannien schlagen immer öfter als Erste an. Zwei Jahre vor Olympia im eigenen Land schwärmen sie vom Zusammenhalt in der Mannschaft

„Wir bereiten uns auf die Olympischen Spiele in London vor, und das gibt uns allen einen richtigen Kick“

GEMMA SPOFFORTH, BRITISCHE RÜCKENSCHWIMMERIN

AUS BUDAPEST ANDREAS MORBACH

Ihr größtes Problem hat Gemma Spofforth schon vor vier Jahren gelöst. Die 22-jährige Rückenspezialistin brauchte dringend einen Ausgleich zu dem notwendigen, allerdings auch arg abwechslungsarmem Kachelnzählen in ihrem Schwimmeralltag. Also nahm sie ein Psychologiestudium auf – und weil es die groß gewachsene Südengländerin zugleich von der britischen Insel fortzog, besorgte sich Spofforth ein Studentinnenvisum für die USA. Das Studium in Florida hat sie inzwischen beendet, ihre Aufenthaltsgenehmigung läuft ab. Doch weil sie weiterhin in Amerika leben und Kacheln zählen will, sucht sich die Weltrekordhalterin über 100 Meter Rücken in den Vereinigten Staaten gerade einen Job.

Fehlende Berufserfahrung wird dabei sicher kein Problem sein. Gemma Spofforth hat neben dem Studium bei einer Telefon-Hotline für potenzielle Selbstmörder gearbeitet. Als sie das erste Mal nicht mehr nur am Telefon saß, sondern einen Suizidgefährdeten zu Hause besuchen sollte, wären ihr beim Einparken vor der Wohnung fast die Autoschlüssel aus der Hand gefallen, so nervös war sie.

Ein bisschen aufregend sind für Englands Topschwimmer nun auch die EM-Tage in Budapest. Wobei die Grundstimmung bestens ist: Die Bahnenzieher aus dem Gastgeberland der nächsten Olympischen Spiele haben sich in den letzten Jahren kontinuierlich der Weltspitze angenähert und lagen nach drei Finaltagen mit drei Goldplaketten gemeinsam mit Frankreich auch in der Medaillenwertung dieser Europameisterschaft ganz vorne. Über 100 m Freistil hat Francesca Halsall gewonnen, über 200 Meter Rücken Elizabeth Simmonds und über 400 m Lagen Hannah Miley. Doch über persönliche Leistungen sprechen sie alle nur mit großer Zurückhaltung. Haben sie in Rebecca Adlington doch ein warnendes Beispiel im Team.

Mit 19 gewann die blonde Freistilschwimmerin in Peking olympisches Gold über 400 und 800 Meter Freistil. Doch das britische Pendant zur deutschen Doppel-Olympiasiegerin von 2008, Britta Steffen, kam mit dem Rummel, der nach der Rückkehr aus China um sie gemacht wurde, überhaupt nicht klar. Zwei, drei Monate lang wurde Adlington von einer TV-Sendung zur nächsten gezerrt – doch bei der WM 2009 in Rom schaffte sie es dann nur noch zu zweimal Bronze – über 400 Meter Freistil und mit der 4-x-200-Meter Freistilstaffel.

Adlingtons Erfahrungen haben Spuren hinterlassen im britischen Team. Vor ihrem großen Finalnachmittag in Budapest – mit Entscheidungen auf gleich drei englischen Weltrekordstrecken – sprach die Gefolgschaft von Chefcoach Dennis Pursley nie von Topleistungen Einzelner, sondern immer nur vom wunderbaren Zusammenhalt untereinander. Diesen Teamgeist verkaufen die Athleten auch als den Hauptgrund für die Hausse im englischen Schwimmsport. „Wir funktionieren einfach als Mannschaft gut. Dadurch sind wir in den letzten Jahren immer besser geworden, vor allem seit Peking“, erläutert Liam Tancock, Weltrekordhalter über 50 Meter Rücken, der seit acht Jahren in Loughborough in einem der nationalen Schwimmzentren trainiert.

Gemma Spofforth, die in Rom überraschend den WM-Titel über 100 Meter Rücken gewann, sieht das ganz ähnlich. „Hinter unseren Erfolgen steckt kein spezielles Geheimnis“, beteuert die Wahlamerikanerin, die aus leidvoller Erfahrung spricht, wenn sie sagt: „In der Mannschaft herrscht inzwischen einfach eine bessere Atmosphäre, anders, als das früher der Fall war.“ Das klingt sehr nach den neuen Umgangsformen, die auch im deutschen Team Einzug gehalten haben. Ein anderes Erfolgsmotiv haben die Engländer dagegen exklusiv: Sie blicken Olympischen Spielen im Heimatland entgegen. Sie tauchen langsam am Horizont auf. „Wir bereiten uns auf London vor, und das gibt uns allen einen richtigen Kick“, beschreibt Spofforth die allgemeine Stimmung.

Am Mittwoch staunte Teamkollegin Francesca Halsall über ihre unerwartet rasche Siegerzeit über 100 Meter Freistil. Dabei haben sie und die anderen englischen Schwimmer ihr aktuelles Leistungslimit noch gar nicht erreicht – weil ihr Verband die Commonwealth Games im Oktober in Delhi zum eigentlichen Saisonhöhepunkt erklärt hat. Die Fahnenstange ist also noch nicht erreicht in diesem Jahr – und mit Blick auf London 2012 ohnehin nicht. Eine Jagd auf die USA oder Australien beim Heimspiel im Pool? „Wir sind eine kleine Schwimmnation. Deshalb glaube ich nicht, dass das unser Hauptziel sein wird“, sagt Liam Hancock, kündigt aber an: „Uns hier und da an die großen Namen heranzupirschen, das dürfte bei Olympia schon großen Spaß machen.“