: Im Herz der echten Finsternis
KINDERSOLDATEN Wojciech Jagielskis Reportage „Wanderer der Nacht“ über die Gewalt an und von Kindern in Uganda
VON DIETHELM BLECKING
Niemand will euch mehr, niemand wartet auf euch, niemand wird euch je wieder lieben.“
Dieser Satz beschreibt das soziale Ziel eines Initiationsritus für Kindersoldaten in Uganda. Der Junge, der sich diesem Ritus unterwerfen muss, ist neun Jahre alt und seine Aufnahmeprüfung für den Beruf des „Partisanen“ besteht darin, ein anderes Kind mit einem großen Knüppel totzuschlagen. Dabei hat Samuel noch Glück, denn es ist nicht seine Mutter oder seine Schwester, die er töten muss, sondern nur ein anderes von den „Partisanen“ brutal entführtes Kind, das sein Schluchzen und Weinen nicht unterdrücken kann.
Wojciech Jagielski, Starreporter der liberalen polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza und Meisterschüler des legendären, jüngst in die Kritik geratenen, polnischen Auslandsreporters Ryszard Kapuscinski, hat Kindersoldaten in Tschetschenien und in Afghanistan erlebt, aber die Ereignisse in Uganda, die er in dem Buch „Wanderer der Nacht“ in einer Mischung aus Dokumentation und dokumentarisch aufgeladener Fiktion beschreibt, stellen in ihrer Wucht alles in den Schatten. Der polnische Journalist erzählt, während er einzelne Schicksale vorstellt, fast nebenbei die Geschichte des jahrzehntelangen Bürgerkrieges mit 1,5 Millionen Toten.
Bananen und Hitler
Es ist die Lord’s Resistance Army, die Samuel entführte und zum Mörder machte. Diese Truppe steht in der Tradition der Privatarmeen, die seit der Unabhängigkeit des Landes einer von Geistern besessenen charismatischen Führungsperson folgten. Die Gräuel, die diese Haufen von Kinder-Desperados verüben, sind beispiellos; sie mittelalterlich zu nennen, wäre verharmlosend, weil Kannibalismus aus dieser Zeit nicht überliefert ist.
Nora, die Leiterin eines Therapiezentrums für ehemalige Kindersoldaten, und der schillernde Radiojournalist Jackson bilden die wichtigsten Bezugspersonen des Erzählers auf der Suche nach einer Erklärung für den Wahnsinn. Dabei findet der Autor schon bei dem Despoten Idi Amin eine Beziehung zwischen kindlicher Seele und schrankenloser Grausamkeit: Amins intelligenter Rat an Richard Nixon, die Amerikaner sollten endlich einen schwarzen Präsidenten wählen, und sein fürsorgliches Versprechen an die englische Queen, im Falle einer Hungersnot das Königreich mit Bananen zu versorgen, waren die komische Seite des grausamen Kindes, seine Bewunderung für Hitler die andere. Zu den wenig komischen Facetten gehörte, dass Amin Personen zu sich befahl, die er längst hatte hinrichten lassen. Aber auch Idi Amins Vorgänger und Nachfolger unterschieden sich nur graduell von dem Despoten. Als in Uganda ein Film über Amin gedreht wurde und der ihn darstellende Schauspieler durch die Straßen ging, jubelten die Menschen ihm zu.
Der Reporter Jagielski muss sich bald eingestehen, dass er angesichts des Horrors, in dessen Inszenierung sich Versatzstücke christlicher Religion mit der Geisterwelt der Stämme mischen, so ratlos bleibt wie seine Kollegen, die deshalb den Beruf verließen, Kinderheime gründeten und sich um Kriegswaisen kümmerten, wenn sie nicht ihren Ausweg im Suizid fanden. Bei seinen Reisen durch das Land wird dem Erzähler jedoch eines recht schnell deutlich: Die Kolonisierung der Region und das Chaos nach der Unabhängigkeit zerstörten offensichtlich eine innere Ordnung, die die Kraft zur Heilung besaß, doch durch das Ausmaß an Tod und Zerstörung diese Fähigkeit verlor.
Geisterhafte Selbstheilung
Im Zentrum dieser Selbstheilung steht ein archaisches Reinigungsritual, das Vergebung verspricht, wenn Täter und Opfer sich einem bestimmten Ritus unterwerfen. Jagielski wohnt diesem Ritual bei und erfährt, dass die Menschen selbst dem derzeitigen Kommandeur der Lord’s Resistance Army, dem Massenmörder Joseph Kony, eher die Unterwerfung unter dieses Reinigungsritual wünschen als eine Zelle in Den Haag.
Am Ende dieser Reise ins „Herz der Finsternis“, die Jagielski anders als sein Landsmann Joseph Conrad tatsächlich unternommen hat, verliert der Reporter fast den Verstand, denn sein Gewährsmann verschwindet, niemand erinnert sich an eine Person, die Jackson heißt. Die Geisterwelt hat den Europäer eingeholt und besiegt.
Die Wanderer der Nacht, die dem Buch den Titel geben, sind Kinder, die wie eine Geisterarmee des Abends in den Straßen einer Kleinstadt erscheinen, um dort auf den Straßen die Nacht zu verbringen, damit die „Partisanen“ sie nicht in ihren Dörfern fangen, missbrauchen und zu Mordmaschinen drillen. Morgens verschwinden sie wieder im Busch. Dem Leser bleiben angesichts dieser so beeindruckenden wie bedrückenden Erzählung nur Verstörung und die gleiche Ratlosigkeit wie dem Autor sowie der leise Zweifel, ob ein Politikbegriff, der in Europa seine Berechtigung hat, im Gebiet der Großen Seen Afrikas noch gilt. Dieser Zweifel hat eine Dimension, die über das zentrale Afrika hinausgeht.
■ Wojciech Jagielski: „Wanderer der Nacht. Eine literarische Reportage“. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Transit, Berlin 2010, 258 S., 18,80 Euro